Süddeutsche Zeitung

Nach dem Anschlag von Sousse:"Ich glaube an die tunesischen Frauen"

Ist der Arabische Frühling in Tunesien gescheitert? Professor Hafedh Gharbi ist nach dem Attentat in Sousse überzeugt, dass sich das Land von dem Schock erholen wird.

Von Thierry Backes, Sousse

Ein Café an der Avenue du 14 Janvier in Sousse. Die Fensterfront ist mit Gardinen verhangen, es soll keiner sehen, wer mitten im Ramadan hier sitzt. Hafedh Gharbi, 36, bestellt eine Flasche Wasser - für seine Gesprächspartner. Er lehrt Amerikanistik in Sousse, aber heute geht es nur um seine Heimat Tunesien. Wie steht es um sie ein paar Tage nach dem Anschlag auf ein Hotel, dem 38 Menschen zum Opfer fielen?

SZ: Herr Gharbi, viele Touristen sind abgereist. Hat der Attentäter sein Ziel erreicht?

Hafedh Gharbi: In einem Punkt ja: Der Effekt auf den Tourismus ist sofort spürbar. Einzelne Hotelchefs haben bereits angekündigt, dass sie ihr Personal nicht über den Sommer halten werden, damit stehen ganze Familien ohne Einkommen da. Das wird ein sehr hartes Jahr für das Land, jeder fünfte Tunesier ist abhängig vom Tourismus. Aber das große Ziel der Islamisten ist es, die Demokratie in Tunesien zu destabilisieren, und das wird ihnen nicht gelingen.

Sie klingen hoffnungsfroh. Warum?

Weil es Hoffnung gibt. Wir vergessen ab und zu, warum wir die alte Herrscherkaste um Ben Ali Anfang 2011 verjagt haben. Damals haben wir die Büchse der Pandora geöffnet und danach viele, auch unangenehme Debatten im Land geführt, über die Scharia oder über Frauenrechte. Heute haben wir eine demokratische Verfassung und eine starke zivile Gesellschaft, die für ihre Werte einsteht. Gerade die Frauen werden sich ihre Rechte nicht mehr nehmen lassen, sie sind nach all den Kämpfen sehr selbstbewusst und viel couragierter als die tunesischen Männer. Ich glaube an die tunesischen Frauen.

Wenn die Touristen mittelfristig ausbleiben, schlittert das Land trotzdem in die Krise. Was muss die Regierung jetzt tun?

Was Tunesien jetzt braucht, ist zunächst einmal eine Botschaft: Wir sind eine Nation, wir stehen alle zusammen. Hier ist aber nicht nur die Regierung gefordert, sondern zum Beispiel auch die mächtige Arbeitergewerkschaft UGTT, die das Land mit Hunderten von Streiks in den vergangenen Monaten lahmgelegt hat. Sie hat eine historische Verantwortung und muss ein Signal senden, sich hinter die Regierung stellen, auch wenn sie nicht mit ihr einverstanden ist. Und das müssen wir jetzt alle tun.

Das wird aber nicht reichen.

Natürlich nicht. Die Regierung muss die Sicherheit in den Küstenregionen wiederherstellen, damit die Touristen wiederkommen. Vor allem aber muss sie mit harter Hand gegen jede Form von Extremismus vorgehen. Das Problem hat sie lange genug schleifen lassen. Nach dem Anschlag auf das Bardo-Museum im März hat die Regierung gesagt: Terroristische Anschläge können überall passieren, in London, in Paris, und nun eben in Tunis. Sie hat das nicht ernst genug genommen - und jetzt sehen wir, wohin uns das gebracht hat.

Dann kam der Anschlag für Sie nicht überraschend?

Nein. Das Attentat war ein Schock in seinem Ausmaß, aber es war ganz bestimmt keine Überraschung. Es gab Hunderte von Anzeichen im Internet, Tweets und Videobotschaften. Die Politik hat die sehr wohl registriert, aber nichts dagegen unternommen. Sie hat unter dem Namen der Redefreiheit viel zu lax auf extremistische Strömungen reagiert, über die sie überhaupt keine Kontrolle hat.

Machen Sie dafür die moderat islamistische Ennahda verantwortlich, die stärkste Kraft nach der Revolution 2011?

Ja, aber nicht nur. Sie hat sich als moderne Partei präsentiert, den Staat und die Wirtschaft aber so schlecht gemanagt, dass sich die Extremisten ausbreiten konnten. Dann haben die Leute Ende 2014 die säkulare Partei Nidaa Tounes gewählt - und was macht die als Erstes? Koaliert mit der Ennahda. Da hat die Politik viel Vertrauen in der Bevölkerung verspielt.

Die neue Regierung hat jetzt angekündigt, 80 Moscheen zu schließen, die undemokratisches Gedankengut verbreiten. Hilft das weiter?

Ja, aber das kommt viel zu spät, von den Moscheen wusste sie auch vorher. Dass die Redefreiheit gewisser Einschränkungen bedarf, lernt Tunesien gerade auf die harte Tour. Dazu ein Beispiel: Anfang Juni hat man die islamistische Hizb ut-Tahrir in einem öffentlichen Sportkomplex in Tunis auftreten lassen. Die kennt keine Loyalität dem tunesischen Staat gegenüber. Als ich die Bilder im Fernsehen gesehen habe, habe ich gedacht, das wäre in Afghanistan, nicht in Tunesien.

Wie kommt die Wirtschaft wieder auf die Beine?

Tourismus und Sicherheit gehen Hand in Hand. Es wird vielleicht ein paar Jahre dauern, aber am Ende wird Tunesien sich von dieser schrecklichen Zeit erholen. Und machen wir uns nichts vor: Wir brauchen den Tourismus, wir haben wenig Ressourcen, kein Öl. Er wird also weiterhin sehr wichtig für uns sein, wir können an anderer Stelle aber Reformen vorantreiben.

Wo denn?

Wir haben ein defizitäres Wirtschafts- und ein defizitäres Bildungssystem, und beides hängt zusammen. Universitäten geben den Menschen keine Hoffnung mehr. Wenn ich in meinem Hörsaal stehe und 400 Studenten vor mir sitzen habe, dann weiß ich: Nur 50 werden es schaffen, einen ordentlichen Job zu finden. Es gibt an den Unis sehr große Englisch-Fakultäten, weil die Verfassung jedem das Recht auf ein Studium seiner Wahl einräumt. Aber es gibt keine adäquaten Jobs für die Studenten, sie haben keine Perspektive. Und wenn wir dann Pech haben, gehen sie in die falsche Moschee und radikalisieren sich.

Der Attentäter vom Hotel Impérial Marhaba war auch Student.

Ja, und das bringt uns zum nächsten Problem. 95 Prozent der Terroristen, die in den vergangenen Jahren auffällig geworden sind, waren Studenten eines naturwissenschaftlichen Fach. Das ist kein Zufall. Ihnen fehlt die humanitäre Bildung, das müssen wir ändern. Wir müssen sie mit Kant konfrontieren, ihnen sagen, dass es mehr gibt als die Wissenschaft und den Islam. Und dann müssen wir die Lehrpläne der Universitäten besser auf die Bedürfnisse der Wirtschaft ausrichten.

Klingt nach viel Arbeit.

Ist es auch. Aber wir kriegen das hin. Schreiben Sie das: Wir haben Hoffnung.

Mitarbeit: Marwa Abayed

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