Nach Bluttat in London:Wir verstehen es nicht, es muss Terrorismus sein

Lesezeit: 4 Min.

Blumen vor den "Royal Artillery Barracks" in Woolwich: Ganz in der Nähe wurde der britische Soldat Lee Rigby ermordet. (Foto: REUTERS)

Beinahe reflexartig haben manche Gewalttaten wie in Boston und London als Terrorakte bezeichnet. Aber nach welcher Definition? Eine Spurensuche, die zeigt, warum die Diskussion darüber so wichtig ist.

Von Gökalp Babayigit

Der Täter hat im Jahr 2009 den amerikanischen Wachmann Stephen Tyrone Johns im Washingtoner Holocaust Memorial Museum ermordet. Der Polizei war der Vorbestrafte als Holocaust-Leugner bekannt, der offen und aggressiv gegen Juden hetzte. War er ein Terrorist, der einen Terrorakt begangen hat?

Die beiden Täter haben im Mai 2013 den britischen Soldaten Lee Rigby in London auf grausame Weise ermordet. Sie haben ihre Beweggründe vor den laufenden Handykameras der Schaulustigen mitgeteilt und dabei das archaische Prinzip "Auge um Auge, Zahn um Zahn" zitiert. Beide sind nach Angaben der Polizei vor Jahren zum Islam konvertiert, zu einer besonders radikalisierten Form, wie es hieß. Sind sie Terroristen, die einen Terrorakt begangen haben?

Allein mit der Frage konfrontiert zu werden, mag bei manchem Unbehagen auslösen. Ist es denn wichtig, ob dieser Gewaltakt nun ein Terrorakt war, wie ihn Premier David Cameron in seiner ersten Stellungnahme nannte? Nein - und ja. Nein, weil es für die trauernden Angehörigen von Johns und Rigby keinen Unterschied macht, ob ihre Liebsten von Terroristen oder von "einfachen" Mördern/Kriminellen/Verwirrten getötet wurden. Ja, weil es in unserer Gesellschaft das Bedürfnis gibt und geben sollte, die Dinge zu verstehen, die bei uns passieren - und die Dinge richtig zu benennen.

Was also macht aus einem Gewaltakt wie jenen in London eine Tat von Terroristen? Das Problem ist zunächst, dass es nicht die eine Definition gibt, nach der jeder Terrorakt eindeutig als solcher identifiziert werden kann. Koryphäen auf diesem Gebiet wie Walter Laqueur stellten schon vor 30 Jahren fest, dass eine Festlegung auf spezifische Kriterien praktisch nie breite internationale Anerkennung fände. Bereits 1988 - lange vor 9/11 - haben die Wissenschaftler Alex Schmid und Albert Jongman 200 führende Akademiker nach deren Definition von Terrorismus gefragt. Aus den 109 Antworten gewannen sie eine Essenz dessen, worauf sich die wissenschaftliche Welt einigen konnte: Sie identifizierten Wörter oder Wendungen, die immer wieder in den Definitionen auftauchten.

Jessie Blackbourn, Fergal F. Davis und Natasha C. Taylor, ein australisch-britisches Forschertrio, führten 2012 den Gedanken weiter und untersuchte nach dem gleichen Prinzip die Terrorgesetzgebung in sieben Ländern, die nach dem 11. September 2001 gesetzgeberisch aktiv geworden waren. Das Ergebnis: wieder regelmäßig auftauchende Wendungen und Formulierungen, aus der eine Essenz gewonnen werden konnte, nach der Terrorismus zielgerichtete, geplante Gewalt ist, die politisch, religiös oder ideologisch motiviert ist. Danach beabsichtigt der Terrorist, mit seinen Handlungen Regierungen und Zivilisten zu nötigen und einzuschüchtern.

Terrorism is some form of purposive and planned violence that has a political, religious, or ideological motivation. It is intended to coerce or intimidate and is targeted at civilians or government.

Doch schon dieser Versuch einer Annäherung an die Quintessenz zeigt, dass schon die rechtliche Aufarbeitung im Fall des ermordeten Lee Rigby vor Problemen steht, wie Guardian-Kolumnist Glenn Greenwald argumentiert. Rigby war Soldat einer Nation, die sich im Krieg befindet, und kein Zivilist.

To begin with, in order for an act of violence to be "terrorism", many argue that it must deliberately target civilians. But here, [...], the victim of the violence was a soldier of a nation at war, not a civilian.

Doch wenn die rechtliche Klärung offensichtlich schon nicht so leicht fällt (übrigens auch nicht in Deutschland, wie der Fall der Kölner Kofferbomber zeigte, die nicht als "Terroristen" ins Gefängnis gewandert sind), wieso kommt das Vor-Urteil Premier Cameron nach der Londoner Bluttat so schnell über die Lippen? Oder US-Präsident Obama nach den Bomben in Boston, der ebenfalls von einem Act of Terror sprach - eine Formulierung, die sich später in der Anklage gegen Dschochar Zarnajew nicht wiederfand?

Dass das Wort Terrorismus mittlerweile einen religiös und ethnisch motivierten Anstrich erhalten hat, veranschaulichen nicht zuletzt die Beispiele am Anfang dieses Textes. Während niemand die Ermordung des Museumswärters Johns als terroristischen Akt bezeichnete, schreiben die Nachrichtenseiten und -agenturen und sprechen die britischen Politiker im Fall der Londoner Täter von "Terroristen". Dabei scheint der Hinweis, es seien "islamistische Terroristen" gewesen, als begreiflich machendes Hilfsmittel zu fungieren. Die unerklärliche Tat, bei der ein Mann auf offener Straße zu Tode gehackt wurde, wird dadurch freilich nicht erklärt. Doch sie wird eindeutig gelabelt und wird durch die Erklärung zum Terrorakt verdammt. Eine Möglichkeit der Anfechtung gibt es nicht, was nicht nur daran liegt, dass der Täter kein Gehör findet. Es liegt auch daran, dass er gegen seine Verurteilung kaum argumentieren könnte. Die Definition von Terrorismus, nach der über ihn gerichtet wird, obliegt seinem Gegner.

Mit welchem Furor an dieser letztinstanzlichen Verurteilung festgehalten wird, bekommen jene zu spüren, die in Frage stellen, dass es sich bei der Tat in Woolwich wirklich um Terrorismus handelte, indem sie Handlungen des amerikanischen und des britischen Militärs in Afghanistan, Pakistan oder im Jemen ins Feld führen, die ja auch nicht als Terrorismus definiert würden, sehr wohl aber so definiert werden müssten. Glenn Greenwald etwa sah sich heftigen Angriffen von Andrew Sullivan, einem in den USA ansässigen Journalisten und Blogger, ausgesetzt. Und wehrte sich, indem er Sullivans Wut entlarvte:

He [Sullivan], and so many others, are deeply invested on a psychological and personal level in protecting the narrative that Islam is a uniquely violent force in the world, that Muslim extremists pose a threat that nobody else poses, and that the US, the West and its allies (including Israel) are morally superior and more civilized than their adversaries, and their violence is more noble and elevated.

Es geht bei der Vergabe des Terrorismus-Labels also um unangreifbare moralische Überlegenheit, die jeden anderen rhetorischen Angriff auf den Gegner schlägt - egal ob Mörder, Verbrecher oder Verwirrter. Wenn unser Gegner ein Terrorist ist und damit das Böse verkörpert, können wir ja nur die Guten sein. Brian Jenkins formulierte es in seinem vielbeachteten Werk " The Study of Terrorism: Definitional Problems" so: "Wer es schafft, seinem Gegner das Label 'Terrorist' anzuheften, hat es geschafft, andere von ihrem moralischen Standpunkt zu überzeugen. Terrorismus ist das, was die bösen Jungs tun."

Das sind in der Konsequenz sehr schlechte Nachrichten für jene, die sich eine klare, breit akzeptierte Terrorismus-Definition wünschen. Dem Begriff immanent ist sein politisches Instrumentalisierungspotenzial. Seine Definition ist absichtlich offengehalten, weil die handelnden Akteure, Staaten etwa, kein Interesse daran haben, sich selbst des Interpretationsspielraums des Begriffs zu berauben. Im Gegenteil: Das Wort Terror soll und darf jene Eigenschaft nicht verlieren, die für Regierungen in aller Welt so wichtig ist: die Möglichkeit der eigenen, situativen Interpretation, ein rhetorisches Hilfsmittel für die politische Agenda.

Ob die Tat in London also nun ein "Terrorakt" war oder nicht, hängt davon ab, ob ihre Bezeichnung als solche den handelnden Akteuren nützt.

© Süddeutsche.de/ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: