Süddeutsche Zeitung

Nach Armenier-Resolution:Im Hassgewitter von Präsident Erdoğan

  • Türkische Nationalisten und die türkische Regierung erreichen mit der Reaktion auf die Armenier-Resolution des Bundestages eine neue Dimension verbaler Aggression.
  • Die Angriffe zielen direkt auf die Ehre der türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten.
  • Die elf Abgeordneten wünschen sich, dass Kanzlerin oder Bundespräsident klar Stellung beziehen.

Von Stefan Braun

Özcan Mutlu ist verbale Attacken und böse Mails gewohnt. Der Grünen-Politiker, der seit 2013 im Bundestag sitzt und davor seine Partei viele Jahre im Berliner Abgeordnetenhaus vertrat, hat schon oft derlei Angriffe über sich ergehen lassen müssen. Mal waren es deutsche Rechtsradikale, die ihn mit Hass-Mails überzogen, weil er harsche Kritik an der Alternative für Deutschland (AfD) übte; mal waren es türkische Nationalisten, die gegen ihn wetterten, weil er in der Türkei Presse- und Meinungsfreiheit anmahnte. Das aber, was Mutlu derzeit widerfährt, ist neu. "Eine Aggression wie zur Zeit hat es noch nie gegeben." Morddrohungen inklusive.

So gesehen wird sich die Armenier-Resolution, die der Bundestag in der vergangenen Woche verabschiedete, gleich zweimal in den Geschichtsbüchern niederschlagen: Zum einen als klare Botschaft, dass für die deutschen Volksvertreter die Massaker und Vertreibungen der Armenier durch das Osmanische Reich ein Völkermord waren; zum anderen, weil die Reaktion türkischer Nationalisten und der türkischen Führung eine neue Dimension verbaler Aggression erreicht haben.

Die Angegriffenen fordern Unterstützung von Merkel oder Gauck

Der wahrscheinlich wichtigste Auslöser von all dem sitzt im Präsidentenpalast von Ankara. Recep Tayyip Erdoğan hat seit der Entscheidung des Bundestages keine Gelegenheit ausgelassen, mit Attacken gegen Deutschland und die türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten die Stimmung anzuheizen. Erdoğans Tiraden begannen mit dem Vorwurf, das deutsche Parlament habe keine Berechtigung, sich zu so etwas wie Völkermord zu äußern. Im Übrigen müsse Berlin zuallererst den Holocaust aufarbeiten und Stellung beziehen zum Völkermord an den Herero Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutsch-Südwest, dem heutigen Namibia. Dann rückte Erdoğan türkischstämmige Abgeordnete wie Mutlu und seine Fraktionskollegin Ekin Deligöz in die Nähe von Terroristen der verbotenen kurdischen PKK. Und als Gipfel seiner Verunglimpfungen erklärte er, man müsse diesen Blut abnehmen, um zu prüfen, ob sie wirklich türkische Wurzeln hätten.

Leute anprangern, samt Foto, das ist in der türkischen Politik ein beliebtes Instrument der Auseinandersetzung. Ganz vorne dabei, das Spitzenpersonal der Erdoğan-Partei. İbrahim Melih Gökçek, Bürgermeister von Ankara, verschickte über den Kurznachrichtendienst Twitter eine Bildergalerie und dem Stichwort: "Die Verräter sollen ausgebürgert werden." Dazu die Fotos der elf türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten. Das größte Bild zeigt Grünen-Chef Cem Özdemir. Es findet schnell Verbreitung, fast immer gehört ein aggressiver Kommentar dazu wie jener: Es wäre eine Schande, die gleiche Luft zu atmen.

Mutlu berät sich mittlerweile mit der Bundestagsspitze und deren Sicherheitsleuten. "Worte kommen zuerst, dann kommen Taten", sagt der 48-jährige Kreuzberger. Die steckbriefartigen Internet-Postings könnten viele animieren, mehr zu machen als "nur" Hassmails zu schreiben. "Niemand kann noch ausschließen, dass sich davon einer aufgerufen fühlt, uns anzugreifen." Ekin Deligöz erlebt die Attacken ganz ähnlich. "Es ist echt krass: Sexistische Attacken, eine unendliche Zahl, und es sind fast nur Männer", erzählt die 45-jährige Abgeordnete aus Bayern. Sie schmerzt die enorme Wucht der Anwürfe auch deshalb, weil sie gemerkt hat, dass die meisten Angreifer "keineswegs das Ziel haben, mit mir zu diskutieren", wie sie sagt. "Die haben ein unumstößliches Feindbild. Alles, was das Feindbild infrage stellen könnte, wird ignoriert."

"Es heißt: Wir hätten uns verkauft"

Die Angriffe zielen direkt auf die Ehre der türkischstämmigen Abgeordneten. "Es heißt: Wir hätten uns verkauft. Wir würden uns anbiedern. Und wir hätten uns ja sowieso noch nie für die Türkei eingesetzt." All das sage viel darüber aus, wie Erdoğan und seine AKP die Abgeordneten mit Wurzeln in der Türkei sehen würden. "Sie haben uns immer als ihre exklusiven Interessenvertreter gesehen." Das erkläre womöglich am besten, warum sie so extrem aggressiv reagierten. "Es gipfelt meist in ziemlich archaischen Verwünschungen: Ihr sollt in Isolation sterben. Ihr gehört verdammt!"

Mutlu betont, dass er sich weiter als Brückenbauer sehe, allerdings nicht um jeden Preis. "Natürlich habe ich Wurzeln in der Türkei. Nur heißt das keineswegs, dass ich ein Land oder eine Politik verteidige, die falsch ist." Ja, Erdoğan und viele in der Türkei hätten ihn und seine Kollegen als "Brückenkopf" ins deutsche Parlament betrachtet. Aber das "ist Unsinn!"

Neben Mutlu, Deligöz und Özdemir gibt es acht weitere Bundestagsabgeordnete mit türkischen Wurzeln. Bundestagspräsident Norbert Lammert stellte sich vor sie und sagte, jeder, der Druck auf einzelne Abgeordnete auszuüben versuche, "greift damit zugleich das ganze Parlament und unsere Demokratie an". Die elf Abgeordneten aber wünschen sich, dass Kanzlerin oder Bundespräsident klar Stellung beziehen. "Merkel oder Gauck müssen unmissverständlich sagen: Das sind unsere Abgeordneten; die rührt niemand an", fordert Deligöz. "Sonst wird das nicht aufhören."

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SZ vom 07.06.2016/fie/odg
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