Nach Angriff auf Rabbiner:Antisemitismus geht uns alle an

Judenfeindliche Sprüche, Verschwörungstheorien, Prügeleien: Antisemitismus ist in Deutschland gesellschaftliche Realität. Er ist da, obwohl die Gesellschaft so aufgeklärt ist wie nie, trotz aller Politikerreden und Bildungsprogramme. Aber es fehlt das Bewusstsein der nicht-antisemitischen Mehrheit. Es geht auch uns was an, wenn über "die Juden" geredet wird.

Matthias Drobinski

Es war eines dieser Fußball-Hallenturniere, die bis in die Nacht gehen, die Stimmung war gut. Es lief das Elfmeterschießen um Platz drei, der Spieler einer türkisch-arabischen Mannschaft nahm Anlauf, die anderen feuerten ihn an, nette Jungs mit Freundinnen ohne Kopftuch; einer rief: "Hau drauf! Der Torwart ist Jude!" Und die anderen lachten. Guter Scherz.

Du Jude. Es gibt nicht nur Hinter-, sondern auch Schulhöfe, wo das als sozialadäquates Schimpfwort gilt. Jüdische Fußballmannschaften bekommen auf dem Platz zu hören, dass man sie hätte vergasen sollen. Wer mit der Kippa durchs falsche Großstadtviertel läuft, wird angepöbelt. Die Prügel für den Rabbiner Daniel Alter, den arabischstämmige Jugendliche vor den Augen seiner Tochter zusammenschlugen - ein Extremfall, aber kein Ausnahmefall. Die Juden sind der Feind. Weil sie böse sind, die Palästinenser töten und die Weltherrschaft wollen, wie das die Leute im Fernseher sagen, der zu Hause läuft.

Abgrund an Fremden- und Judenfeindschaft

Man kann das als Zuwandererproblem sehen und den neuen Antisemitismus besorgt, dann aber doch wieder beruhigt, den Fremden zuschreiben, die da mit ihrer Mischung aus kollektiver Erzählung, Indoktrination und mangelnder Bildung ausgerechnet nach Deutschland gekommen sind, ins Land des Judenmordes. Das ist nicht falsch, genügt aber nicht.

Wie wenig, zeigt die Beschneidungsdebatte, die ja gerade nicht von libanesischen Hauptschülern aus Berlin-Neukölln geführt wird. Sie ist ein notwendiger Diskurs über das Verhältnis von Recht und Religion. Doch sie offenbart auch einen erschreckenden Abgrund an Fremden- und Judenfeindschaft.

"Es ist, als habe man die Decke weggezogen"

Es erschrecken nicht so sehr die zittrigen Leserbriefe derer, die nun erklären, dass die Juden selber schuld an Auschwitz sind, weil man sie, beschnitten wie sie sind, so leicht selektieren konnte. Es erschrecken eher die wohlformulierten Briefe, vertraut mit Kommaregeln und Gerundium, die erklären, dass "die" Juden glaubten, es gebe immer Sonderrechte für sie, ob es um ihre Söhne oder um die Westbank geht - dass man das aber nicht sagen dürfe.

Es ist ein als aufgeklärte Kritik getarnter Essentialismus, das Stereotyp in der Verkleidung des gesunden Rechtsempfindens. Von der legitimen Kritik an Staaten und Religionsgemeinschaften ist er übrigens gut zu unterscheiden.

Antisemitismus ist ein Kontinuum

"Es ist, als habe man die Decke weggezogen", hat die Rabbinerin und Kinderärztin Antje Yael Deusel gesagt - die Decke, die den latenten Antisemitismus verborgen hat. Der jüdische Soziologe Alphons Silbermann hat in den achtziger Jahren die These vertreten, es gebe in der deutschen Nachkriegsgesellschaft eine Judenfeindschaft von stabil 25 Prozent.

Über die Prozentzahl mag man streiten - doch dass der Antisemitismus auch in der deutschen wie europäischen Nachkriegsgeschichte ein Kontinuum ist, lässt sich nicht bestreiten. Er ist da, obwohl es kaum Juden gibt, obwohl die Gesellschaften so aufgeklärt sind wie nie, trotz aller Politikerreden und Bildungsprogramme. Auch eine noch so tolerante und wohlgeordnete Gesellschaft kann die Abgründe nicht schließen, die sich da auftun.

Das Bewusstein der nicht-antisemitischen Mehrheit fehlt

25 Prozent Antisemitismus heißt andererseits: Es gibt eine stabile Mehrheit gegen ihn, es gibt Gesetze gegen ihn, es gibt das Entsetzen, wenn er öffentlich wird - auch das Entsetzen der muslimischen Verbände angesichts der Gewalttat gegen den Rabbiner in Berlin.

Es hat sich nicht die ganze Welt gegen die Juden verschworen, wie manche in den Gemeinden fürchten - verständlicherweise. Was jedoch fehlt, ist das Bewusstsein der nicht-antisemitischen Mehrheit: Es geht auch uns was an, wenn über "die Juden" geredet wird. Es geht darum, wie tragfähig der Boden des Zivilen bleibt, des menschenwürdigen Umgangs untereinander. Denn der kann schnell sehr dünn werden.

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