Süddeutsche Zeitung

Wahlrecht:Mythos Direktmandat

Die CSU idealisiert die direkt gewählten Abgeordneten und verhindert damit eine überfällige Reform zur Verkleinerung des Bundestags.

Kommentar von Robert Roßmann, Berlin

Es ist immer wieder erstaunlich, wie groß der Einfluss der kleinen CSU ist. Die Partei aus Bayern kam bei der Bundestagswahl nicht einmal auf sieben Prozent - dass bei der Verkleinerung des Parlaments jetzt nichts vorangeht, ist aber vor allem ihre Schuld.

Die Normgröße des Bundestags liegt bei 598 Abgeordneten, derzeit gibt es 709. Und nach der nächsten Wahl könnten es sogar mehr als 800 sein. Der Bundestag ist also viel zu groß, seine Arbeitsfähigkeit gefährdet. Seit mehr als sechs Jahren beraten die Parteien nun schon darüber, wie man den Missstand abstellen kann. Seit die CDU-Spitze vor einer Woche signalisiert hat, dass auch sie sich eine Verkleinerung der Zahl der Wahlkreise vorstellen kann, ist endlich ein Kompromiss möglich - die Opposition setzt schon lange auf weniger Wahlkreise. Doch die CSU stellt sich quer. Die Zahl der Wahlkreise dürfe nicht verkleinert werden, heißt es apodiktisch in München.

Die CSU leistet vor allem aus Eigeninteresse Widerstand. Ihre Abgeordneten sind ausnahmslos direkt gewählt, da will man keine Abstriche machen. Wenn es um die Macht geht, war die CSU noch nie zimperlich. Offiziell begründet die Partei ihr Veto jedoch mit dem Wert der Wahlkreise. Die CSU idealisiert die direkt gewählten Abgeordneten als besonders legitimierte Parlamentarier und Garanten der Bürgernähe. Weniger Wahlkreise bedeute größere Wahlkreise - und damit weniger Bürgernähe. Vollkommen falsch liegt die CSU damit nicht. Es gibt zwar keine Abgeordneten erster und zweiter Klasse. Wer direkt gewählt werden will, muss sich aber stärker um die Bürger im Wahlkreis kümmern als ein Politiker, der über eine Parteiliste in den Bundestag strebt.

Die CSU ignoriert allerdings die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte. Wegen der zunehmenden Fragmentierung des Parteiensystems sind die direkt gewählten Abgeordneten nicht mehr so kraftvoll legitimiert wie früher. Bei der letzten Bundestagswahl haben nur noch 13 der 299 Wahlkreissieger mehr als 50 Prozent der Erststimmen geholt. In immer mehr Wahlkreisen reichen Ergebnisse unter 30 Prozent zum Sieg, in Berlin-Mitte gewann die Sozialdemokratin Eva Högl sogar mit 23,5 Prozent. Und Umfragen zeigen, dass ein großer Teil der Bürger auch ihren Wahlkreisabgeordneten nicht kennt. Die direkt gewählten Abgeordneten für sakrosankt zu erklären, wie es die CSU jetzt macht, ist deshalb absurd.

Alle im Bundestag vertretenen Parteien wollen das personalisierte Verhältniswahlrecht beibehalten. Das Parlament soll im Prinzip entsprechend dem Zweitstimmenergebnis zusammengesetzt sein. Unter dieser Voraussetzung ist eine Verkleinerung des Bundestags aber nur möglich, wenn man auch an die Direktmandate geht. Es sollte der CSU zu denken geben, dass sich sogar Wolfgang Schäuble für weniger Wahlkreise ausspricht. Niemand in der Geschichte der Bundesrepublik hat öfter einen Wahlkreis gewonnen als der Bundestagspräsident. Man darf getrost annehmen, dass er Wahlkreise nicht leichtfertig zur Disposition stellt.

Schäuble hat die Fraktionen aufgefordert, sich noch im Januar auf eine Wahlrechtsreform zu verständigen. Die Frist läuft am Freitag ab. Bisher zeichnet sich keine Verständigung ab. Solange der öffentliche Druck auf die CSU nicht steigt, dürfte sich daran auch nichts ändern.

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Quelle:
SZ vom 27.01.2020
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