Rassismus:Mehr als fünf islamfeindliche Angriffe täglich

Lesezeit: 3 Min.

Wer in Deutschland Kopftuch trägt, läuft zunehmend Gefahr, Opfer von Angriffen zu werden. (Foto: Michael Gstettenbauer/Imago)

Beschimpft, attackiert, auf Gleise gestoßen: Ein aktueller Bericht zeigt, wie in Deutschland die Aggressionen gegen Menschen wachsen, die muslimisch sind oder dafür gehalten werden.

Von Constanze von Bullion

Mal werden Moscheen mit Schweineblut oder Fäkalien beschickt, mal wird Schülerinnen an der Bushaltestelle das Tuch vom Kopf gerissen, mal Männern mit schwarzem Bart gedroht, Muslime würden demnächst abgeschlachtet in Deutschland. 1926 antimuslimische Übergriffe und Bedrohungen wurden im vergangenen Jahr in Deutschland gemeldet und vier versuchte Tötungen, das waren mehr als fünf Angriffe pro Tag und entspricht einem Anstieg von 140 Prozent. Das ergibt das Lagebild 2023 der Allianz gegen Islam- und Muslim­feind­lichkeit (Claim), das am Montag in Berlin vorgestellt wurde.

„Antimuslimischer Rassismus war noch nie so salonfähig wie heute, und er kommt aus der Mitte der Gesellschaft“, sagt die Leiterin des zivilgesellschaftlichen Bündnisses Claim, Rima Hanano. „Zielscheibe rassistischer Übergriffe, Diskriminierungen und Erniedrigung werden Menschen, weil sie muslimisch sind oder weil man annimmt, sie seien muslimisch.“ Der Anstieg der gemeldeten Übergriffe sei alarmierend, sie richteten sich nicht nur gegen Personen, sondern auch gegen Moscheen und Restaurants. „Muslimisch markierte Orte sind längst zur Gefahrenzone geworden.“

Die Organisation Claim wird von der Bundesregierung gefördert und dokumentiert mit ihrem Lagebild zum zweiten Mal muslimfeindliche Übergriffe in Deutschland. Dabei stützt sie sich auf Meldungen von Beratungsstellen aus 13 Bundesländern, auf die Statistik politisch motivierter Kriminalität des Bundeskriminalamts sowie auf Medienberichte. Ein Ergebnis: Die Eskalation des Konflikts in Israel und Gaza und seine Folgen haben nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch Muslime in Deutschland in Angst und Schrecken versetzt – und Menschen, die für Muslime gehalten werden. Größte Opfergruppe: Frauen.

Viele Betroffene meldeten Übergriffe nicht bei der Polizei, sagt die Studienleiterin

Manchmal sei es nur der Name, der Diskriminierung auslöse, in anderen Fälle werde von der Hautfarbe oder der Kleidung auf politische und religiöse Haltungen geschlossen, heißt es in dem Bericht. 178 Körperverletzungen, vier versuchte Tötungen, 93 Sachbeschädigungen, fünf Brandstiftungen sowie sechs sonstige Gewalttaten dokumentiert der Bericht, dazu Diebstahl oder Hausfriedensbruch. Und das sei nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit, die Dunkelziffer bei antimuslimischen Übergriffen sei enorm, sagte Claim-Leiterin Hanano. Viele Betroffene hätten aufgrund der politischen Debatte in Deutschland „das Vertrauen in Institutionen verloren“ und meldeten Übergriffe gar nicht erst der Polizei, betonte Güzin Ceyhan, die bei Claim fürs Monitoring der Fälle zuständig ist. Nötig sei eine verpflichtende Fortbildung in Verwaltung und Sicherheitsbehörden, um antimuslimische Übergriffe als solche erkennen zu können, hieß es am Montag.

Die Zahlen des Lageberichts sind nicht repräsentativ, die Tendenz aber zeigt, wie sehr sich die Lage insbesondere für Musliminnen verschärft hat. 62 Prozent der registrierten Opfer waren 2023 demnach Frauen. Häufig wurden aber auch Kinder von Erwachsenen angegriffen oder erniedrigt, nicht selten in Schulen. Und nach dem 7. Oktober und dem Terrorangriff der Hamas in Israel sank in Deutschland die Hemmschwelle laut dem Bericht weiter. Im November 2023 etwa wurde eine Schülerin an einer Bushaltestelle im nordrhein-westfälischen Herford von einem unbekannten Mann als Bombenlegerin beschimpft. In Hamburg schlug ein Unbekannter einer 14-Jährigen ins Gesicht, Anlass war offenbar ihr Kopftuch.

In Magdeburg wurden muslimische Gräber mit Hakenkreuzen beschmiert

In Berlin wurde im November 2023 eine junge Angehörige der Roma mit einem Palästinensertuch von Betrunkenen erst als Hamas-Mitglied gehänselt, dann auf ein Gleis gestoßen. Sie entkam nur knapp dem Tod. In Magdeburg wurden muslimische Gräber mit Hakenkreuzen beschmiert. Schon im Februar 2023 riss eine Frau in Sachsen einer Schülerin das Kopftuch ab und drückte sie zu Boden. In Hamburg schoss ein Rechtsradikaler im Mai durch die Haustür seiner pakistanischen Nachbarn. Eines seiner Zielobjekte: eine schwangere Frau.

Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) nannte die Zunahme antimuslimischer Übergriffe dramatisch. „Um Rassismus in unserer Gesellschaft einzudämmen, ist Präventionsarbeit von klein auf – also insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – unerlässlich“, erklärte sie am Montag. Das Demokratiefördergesetz allerdings, das Beratungsstellen für Opfer rassistischer Gewalt und Diskriminierung eine verlässlichere finanzielle Grundlage geben soll, hängt im Bundestag fest. Und auch im Internet gewinnt der Hass gegen Muslime an Reichweite. Eine Auswertung der jugendaffinen Internetplattform Tiktok durch Claim ergab, dass 57 Prozent der Äußerungen von Wut getrieben waren. Der emotionale Grundton sei „negativ“, wenn über Muslime berichtet werde.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Rechtsextremismus
:Im Zentrum des Kulturkampfes

Nach dem rassistischen Angriff auf eine Familie aus Ghana ringen sie in Grevesmühlen um Aufklärung – und den richtigen Umgang miteinander. Besuch in einer Stadt, in der längst nicht mehr klar ist, wem die Straße gehört.

SZ PlusVon Ulrike Nimz

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: