Muslime und Migranten:Gibt es Parallelgesellschaften in Deutschland?

Moschee in NRW

Die Merkez-Moschee in Duisburg-Marxloh. Der Stadtteil gilt wie auch Berlin-Neukölln als ein besonders von Migranten geprägtes Viertel.

(Foto: dpa)
  • Stadtviertel, die durch Gruppen mit Migrationshintergrund geprägt sind, Phänomene wie Zwangsheirat oder Friedensrichter dienen immer wieder als Hinweise auf Parallelgesellschaften.
  • Wissenschaftler zweifeln an der Existenz von Parallelgesellschaften - allerdings ist das auch eine Frage der Definition.
  • In einigen muslimischen Communitys herrschen extrem patriarchalische Strukturen, nicht selten werden freiheitlich-demokratische Strukturen abgelehnt.
  • Um die Abschottung von Gruppen zu verhindern, muss die Mehrheitsgesellschaft mehr Möglichkeiten zur Integration anbieten.

Von Markus C. Schulte von Drach

Der Begriff "Parallelgesellschaft" steht für ein angebliches Scheitern der Integration von Migranten und für das Ende der Idee von einer multikulturellen Gesellschaft. Und wenn es um Muslime geht, schwingt Angst mit: Angeblich lehnen große Teile der muslimischen Bevölkerung die Kultur der Mehrheitsgesellschaft und ihre Regeln ab.

Als Belege werden Viertel deutscher Großstädte angeführt, in denen Menschen mit Migrationshintergrund das Bild in vielen Bereichen prägen - von der Sprache über die Kleidung bis hin zu Geschäften, Kinos, Restaurants und Vereinen. Stichworte, die häufig fallen, sind Zwangsheirat, Friedensrichter oder sogar "Ehrenmord". Auch die Verbundenheit vieler Türken oder Türkeistämmigen mit ihrer Heimat, mit der regierenden AKP und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan - kürzlich einmal mehr zu beobachten in Köln, als Zehntausende für Erdoğan demonstrierten - irritiert manche Beobachter.

Doch sind Parallelgesellschaften wirklich "längst Realität", wie es etwa vor einiger Zeit das ZDF behauptete?

Diskussion seit 1996

Erstmals verwendet wurde der Begriff 1996 von dem Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer in der Zeit: "Es besteht die Gefahr, dass religiös-politische Gruppen eine schwer durchschaubare 'Parallelgesellschaft' am Rande der Mehrheitsgesellschaft aufbauen könnten."

Doch bis heute, dreißig Jahre später, sind sich Experten nicht einig, was unter Parallelgesellschaften eigentlich zu verstehen ist. Erst 2002 versuchte sich etwa Thomas Meyer von der Universität Dortmund an einer Definition: Neben Eigenschaften wie der Homogenität bezüglich Ethnie, Kultur oder Religion müssten sich die Betroffenen demnach freiwillig abschotten und für fast alle Institutionen der Mehrheitsgesellschaft Alternativen anbieten.

Seine Definition allerdings lege die Messlatte ausgesprochen hoch, stellten Dirk Halm und Martina Sauer vom Zentrum für Türkeistudien an der Universität Essen 2005 fest. Sie hatten untersucht, ob sich unter den Türkeistämmigen in Nordrhein-Westfalen Parallelgesellschaften herausgebildet hatten. Ihr Schluss, den sie bis heute durch weitere Umfragen bestätigt sehen: Es gibt sie nicht - zumindest nicht in dem von Meyer definierten Sinn.

"Auch die Menschen in Stadtvierteln, die vor allem von einer bestimmten Herkunftsgruppe stark gekennzeichnet sind, können sich nicht komplett von der Mehrheitsgesellschaft zurückziehen", sagt Sauer der SZ. "Zumindest partiell müssen sie mit ihr in Kontakt kommen."

"Klima der Angst"

Doch was ist mit Communitys etwa in Teilen Berlins, die von geschlossenen, patriarchalisch geformten Großfamilien und Clans gebildet werden, die gewalttätig sind und von staatlichen Behörden nur noch unzureichend kontrolliert werden? Diese Strukturen existieren tatsächlich, wie Mathias Rohe und Mahmoud Jaraba unlängst belegten. Von einem "Klima der Angst", schreiben die Erlanger Wissenschaftler in ihrer Studie.

Betroffene seien Opfer häuslicher Gewalt und Opfer oder Zeugen krimineller Handlungen, die, zur Wahrung des Familienzusammenhalts oder der Familienehre, daran gehindert werden, staatliche Behörden einzuschalten. Zudem werde im salafistischen Milieu die deutsche Rechtsordnung generell als "menschengemachtes Recht" abgelehnt.

Es geht hier vor allem um die Lebenswelten von Menschen in ganz bestimmten Familien oder Clans mit extrem traditionell oder religiös geprägter interner sozialer Kontrolle. "Auch wenn es für die Betroffenen dramatisch ist - es handelt sich um ein eher kleines Phänomen", sagt Martina Sauer. "Und es geht nicht um DIE Türken oder DIE Muslime."

"Parallelgesellschaften existieren definitiv"

Eine solche Verallgemeinerung hält auch Ahmad Mansour für falsch. Aber die Dimension des Problems ist seiner Einschätzung nach alles andere als klein. Mansour ist Programmdirektor bei der European Foundation for Democracy in Brüssel und arbeitet in den Projekten Heroes und Hayat in Berlin zur Gewaltprävention und gegen die religiöse Radikalisierung von muslimischen Jugendlichen.

"Parallelgesellschaften existieren definitiv", sagt der Psychologe. Zwar gebe es keine Communitys von Migranten mit eigenen Gerichten, Polizei oder Krankenhäusern. Aber in Deutschland lebten auch Menschen, die ganz andere Werte leben und vermitteln, als es dem Grundgesetz entspricht.

"Wenn wir zum Beispiel über patriarchalische Strukturen reden und darüber, wie das Familienrecht oder die sexuelle Selbstbestimmung betrachtet werden, geht es nicht nur um eine kleine Gruppe", sagt Mansour. "Die meisten muslimischen Migranten versuchen, entsprechende Probleme erst in der Familie zu klären. Und da haben Frauen in der Regel weniger Rechte als Männer."

Auch die kritische Haltung zur Religionsfreiheit und der Gleichberechtigung Andersgläubiger sei bei vielen konservativen Muslimen problematisch, sagt Mansour. Selbst in abgeschwächter Form könnte dies den Nährboden bieten für die Entwicklung der extremeren Varianten. Kinder, die unter diesen Bedingungen aufwachsen, können Einstellungen übernehmen, die nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Viele entwickeln sogar Sympathie für Islamisten und im schlimmsten Fall werden manche zu IS-Anhänger.

Fehlende Integrationstendenzen

Doch wie viele Muslime sind tatsächlich nicht in die deutsche Gesellschaft eingebunden, wie viele vertreten problematische Werte? Mittels Umfragen haben Wissenschaftler versucht, das herauszufinden.

  • 2007 veröffentlichten Katrin Brettfeld und Peter Wetzels von der Universität Hamburg eine Studie für das Bundesinnenministerium. Fast 47 Prozent der Befragten stimmten damals der Aussage zu, die Gebote ihrer Religion seien ihnen wichtiger als die Demokratie. Fast ein Drittel sagte, wer die Regeln des Koran nicht wörtlich befolge, sei kein echter Muslim. Fünf bis sieben Prozent hielten sogar Gewalt zur Verbreitung und Durchsetzung des Islam für gerechtfertigt oder waren selbst zu körperlicher Gewalt gegen Ungläubige bereit.
  • Wissenschaftler um Wolfgang Frindte von der Friedrich-Schiller-Universität Jena kamen 2011 zu dem Schluss, dass unter den von ihnen befragten Muslimen im Alter von 16 bis 32 Jahren mit deutschem Pass immerhin 15 Prozent "streng Religiöse mit starken Abneigungen gegenüber dem Westen, tendenzieller Gewaltakzeptanz und ohne Integrationstendenzen" seien. Bei den nichtdeutschen Muslimen waren es sogar rund 24 Prozent.
  • 2013 veröffentlichte das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung eine Umfrage unter Muslimen aus dem Jahr 2008. 30 Prozent der in Deutschland Befragten stimmten allen folgenden drei Aussagen zu: Die religiösen Regeln sind wichtiger als die Gesetze des Landes, in dem sie leben; Muslime sollten zu den Wurzeln des Islam zurückkehren; nur eine Auslegung des Korans sei möglich. Der Autor der Studie, Ruud Koopmans, geht deshalb davon aus, dass in Deutschland etwa 30 Prozent der Muslime "fundamentalistisch" sind.
  • 2014 berichtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dass bei rund einem Zehntel der befragten Muslimas die männlichen Partner "allein darüber entscheiden, ob sie arbeiten oder nicht". Trotzdem ließ sich dem BAMF zufolge nicht sagen, dass patriarchale Einstellungsmuster für den Themenbereich Familie und Haushalt überwiegen würden. Vielmehr würde bei Muslimen und Christen die "Egalität zwischen den Geschlechtern in hohem Maße befürwortet".
  • 2015 berichtete die Bertelsmannstiftung in ihrem "Religionsmonitor" von einer hohen Zustimmung der Muslime in Deutschland zu den gesellschaftlichen Grundwerten und umfangreichen Kontakten zu Nichtmuslimen. 90 Prozent der sunnitischen Muslime - auch der hochreligiösen Gläubigen - halten die Demokratie demnach für eine gute Regierungsform.

Die Mehrheit der Muslime in Deutschland, dieser Schluss lässt sich daraus ziehen, stellt für die Mehrheitsgesellschaft weder eine Bedrohung noch eine Herausforderung dar. Aber: Auch wenn 90 Prozent der Befragten sich zur Demokratie bekennen, sind zehn Prozent, die sie ablehnen, keine unwesentliche Gruppe. Und Ahmad Mansour traut den Statistiken grundsätzlich nicht. "Sie sind häufig politisch motiviert", sagt er. "Es ist zum Beispiel wichtig, wie die Fragen gestellt werden."

Er selbst meine selbstverständlich nicht alle Muslime, wenn er davon spreche, dass die Haltung vieler Muslime ihm Sorge bereite. Auch gehe es nicht nur um Religion. Schließlich ist er selbst Muslim. Die Wissenschaftler sollten ihm zufolge aber zum Beispiel die patriarchalischen Strukturen genauer untersuchen, die in den Communitys der Migranten stark verbreitet seien.

"Ethnische Kolonien" verhindern "Kulturschock"

In einem Punkt sind sich alle Wissenschaftler weitgehend einig: "Segregation" von Migranten - wenn sie denn stattfindet - hat nicht nur ethnisch-kulturelle oder religiöse Ursachen oder ist gar von den Betroffenen selbst gewünscht. Sie ist vielmehr auch die Folge eines Wechselspiels zwischen Migranten und der Mehrheitsgesellschaft.

Es ist leicht nachvollziehbar, dass Menschen in der Fremde "ethnische Kolonien" bilden, in denen sie Hilfe, Orientierung und eine Stabilisierung ihrer Identität finden. Der "Kulturschock" wird so reduziert, schreibt etwa der Sozial- und Religionswissenschaftler Rauf Ceylan von der Universität Osnabrück.

Eine solche "Binnenintegration" in ethnische Kolonien kann ein Zwischenschritt zur Integration in die Mehrheitsgesellschaft sein. Sie kann aber auch zur "Integrationsfalle" werden, wenn die Kontakte mit Einheimischen gering bleiben, deren Sprache nicht gelernt wird und vor allem Medien des Herkunftslandes konsumiert werden. Bei vielen Türken etwa, die ursprünglich nur vorübergehend als Gastarbeiter in Deutschland bleiben wollten, war die Motivation, sich zu integrieren, eher gering.

Doch auch bei den nachfolgenden Generationen gab und gibt es starke Neigungen, unter sich zu bleiben. Der Familienzusammenhalt unter Türkeistämmigen und der Kontakt in das Herkunftsland etwa ist bis heute sehr wichtig. Es wird großer Wert auf frühe Heirat und Familiengründung gelegt, was zum Beispiel die Aufnahme eines Studiums behindern kann. Ehepartnerinnen und -partner wurden und werden bei Türkeistämmigen bis heute eher in der eigenen Community oder in der Türkei gesucht, auch wenn gerade Jüngere inzwischen relativ viele einheimische Freunde haben, sagt Forscherin Martina Sauer.

Mehrheitsgesellschaft in der Pflicht

Auf der anderen Seite zeigen Umfragen immer wieder, dass auch die Mehrheitsgesellschaft kein ausreichend großes Interesse daran hat, die Migranten zu integrieren: Vielmehr werden sie bis heute häufig als homogene Einheit von "Fremden" wahrgenommen und ausgegrenzt. Der Studie der Bertelsmanns-Stiftung zufolge lehnt die deutsche Mehrheitsbevölkerung Muslime und den Islam sogar "zunehmend" ab.

Ablehnung, fehlende Berufschancen und Verarmung können jedoch dazu führen, dass die Betroffenen sich nun gerade auf ihre kulturelle und religiöse Identität besinnen und sich noch enger zusammenschließen.

Ob nun bereits von Parallelgesellschaften gesprochen werden kann oder nicht - um die Integration zu fördern, sind eine Reihe von Angeboten der Mehrheitsgesellschaft notwendig:

  • Echte Chancen auf Bildung und Arbeit (strukturelle Integration, die heute noch selbst vielen Migranten verwehrt bleibt, die ein großes Interesse daran haben).
  • Kontakte zwischen Migranten und Aufnahmegesellschaft (soziale Integration).
  • Die Möglichkeit, Sitten, Traditionen, Werte und Motive der jeweils anderen Seite kennenzulernen (kulturelle Integration).
  • Mit der Zeit kann es so zu Zugehörigkeits- und Heimatgefühlen bei Migranten kommen (identifikatorische/emotionale Integration).

Natürlich haben die Migranten ebenfalls eine Bringschuld. "Integriert sind Menschen, die die Sprache der Mehrheitsgesellschaft sprechen, die ihre Werte schätzen, die das Grundgesetz und die freiheitlich-demokratischen Strukturen dieser Gesellschaft akzeptieren. Die sich in unsere Gesellschaft einbringen", sagt Ahmad Mansour.

Assimilation dagegen, die viele Menschen offenbar erst als erfolgreiche Integration betrachten, ist nichts für ihn. "Wenn Menschen sich entscheiden, ihren Namen, ihre Religion oder ihre Essgewohnheiten zu ändern, dann ist das ihre Sache", sagt er. "Aber für mich spielt mein Hintergrund eine positive Rolle. Ich möchte meinem Kind auch meine Sprache beibringen, die Feiertage meiner Religion, es soll die Literatur und Musik der Kultur kennenlernen, aus der ich stamme."

Er habe das Gefühl, in unserer Gesellschaft werde eine Debatte geführt, in der es immer um "entweder - oder" gehe. Eine Seite relativiere, verharmlose und versuche, die Debatte überhaupt zu verhindern. "Diese Seite bezeichnet Leute, die auf Probleme mit dem Islam hinweisen, als Islamfeinde oder Rassisten. Die andere Seite sieht in uns Muslimen offenbar wilde Tiere, die sich nicht integrieren lassen, und macht den Menschen Angst. Beides ist nicht hilfreich. Wir müssen die Probleme ehrlich und differenziert ansprechen und ernsthaft nach Lösungen suchen."

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