Süddeutsche Zeitung

Muslime in Europa:Eine Frage des Vertrauens

Der "Kampf der Kulturen" mit Europas Muslimen sollte nicht herbeigeredet, sondern vermieden werden. Es ist möglich, gleichzeitig tolerant zu sein und die freiheitlichen Werte zu verteidigen.

Andreas Wirsching

Seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist die sogenannte Neue Islamische Präsenz in Westeuropa zum Thema geworden. Zu vielen Hunderttausenden und mehr kamen Indonesier und Surinamer in die Niederlande, Pakistaner nach Großbritannien, Türken nach Deutschland, Nordafrikaner nach Frankreich, Italien und Spanien. 2008 lebten in den 27 EU-Ländern mehr als 19 Millionen Menschen, die aus Gebieten außerhalb der Europäischen Union zugewandert waren; die weitaus meisten von ihnen sind Muslime, in Deutschland sind es mehr als vier Millionen.

Je länger diese Menschen in Europa leben, desto mehr prägen sie die europäische Wirklichkeit. Tatsächlich entfaltet sich in Westeuropa ein Ausmaß an kultureller Diversität, wie es zumindest seit der Zeit zwischen den Weltkriegen nicht wieder gesehen worden ist. Insofern ließe sich der Satz des Bundespräsidenten Christian Wulff: "Der Islam gehört zu Deutschland" auf Europa erweitern.

Interessanter ist aber der sich meldende Widerspruch: "Dass der Islam zu Deutschland gehört, ist eine Tatsache, die sich auch aus der Historie nirgends belegen lässt" - so Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich. Wenn zwei christliche Spitzenpolitiker plakativ solch konträre Stellungen beziehen, so verrät das eine tiefe Verunsicherung über den eigenen Standort.

Das ist kein Wunder angesichts dessen, dass die Religion eine zunehmend uneindeutige Rolle in der ermüdenden Dauerdiskussion über Europas "Identität" spielt. Beruht die europäische Wertegemeinschaft auf christlichem Fundament? Oder auf jüdisch-christlichem? Ist sie multikulturell? Oder geht es allein um eine moderne, freiheitliche Identität, die in Aufklärung und Individualismus, Demokratie und Menschenrechten wurzelt? Und wie - vor allem - passt der Islam dazu?

Am bequemsten wäre es, die Justiz könnte diese Fragen durch einfache Normsetzung beantworten. Aber leider ist sie dazu nicht in der Lage. Verstößt das Aufhängen des Kruzifixes in Schulräumen gegen das religiöse Neutralitätsgebot des Staates? Im Bundesverfassungsgericht war die Meinung hierüber geteilt. Und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bejahte die Frage 2009 in einem Urteil, das er aber schon 2011 wieder aufhob.

Kann ein muslimischer Schüler in Berlin auf der Zuweisung eines eigenen Schulraums bestehen, um dort das tägliche Gebet zu verrichten? Erstinstanzlich bekam der Schüler recht, aber nur bis das Oberverwaltungsgericht das Urteil kassierte. Diese Beispiele zeigen: Es geht nicht primär um juristische, sondern um kulturelle Fragen, deren Beantwortung am Ende aber auch eine klare politische Linie erfordert.

Ein pragmatischer Weg in vier Schritten

Der Kern des Problems liegt darin, dass sich die europäische Kultur in ihrem Selbstverständnis einerseits auf Freiheit, Demokratie und Individualismus gründet; verbürgte Minderheitenrechte gehören ebenso hierzu wie religiöse Toleranz. So betrachtet, kann niemand bestreiten, dass neben Christen und Juden auch Muslime ihren legitimen Platz in Europa einnehmen. Andererseits aber kann eine selbstbewusste europäische Kultur den offenen Angriff auf ihre Grundlagen und Werte, wie ihn manche islamistische und fundamentalistische Gruppen vortragen, nicht zulassen.

Früher oder später mündet daher jede Diskussion um Religion und Multikulturalismus in einem nur schwer auflösbaren Dilemma: Entweder beharrt Europa auf seiner freiheitlichen Identität und bekämpft deren Gegner. Im äußersten Fall ist es dann legitimierbar, im Namen des westlichen Individualismus individuelle Rechte von Muslimen zu beschneiden. Das Verbot der Burka ist hierfür nur das symbolträchtigste Beispiel. Oder Europa toleriert auch die Identität derjenigen islamistischen Gruppierungen und Milieus, die die europäische Kultur unterlaufen oder sogar offensiv bekämpfen - dann freilich stellt sich diese Kultur im Extremfall selbst zur Disposition, produziert Parallelgesellschaften und läuft Gefahr, ihre ideelle Grundlage zu verlieren.

Aus dem Dilemma führt nur ein pragmatischer Weg, der in vier Schritten begangen werden kann. Der erste Schritt wäre ein Zuwachs an Laizismus. In einer multikulturellen Gesellschaft mit religiöser Vielfalt muss die Religion Privatsache des Einzelnen bleiben und von dem öffentlichen Bereich von Politik und Recht getrennt werden. Nur dann ist echte Toleranz gewährleistet, die die Identität von Zuwanderern respektiert und davon absieht, sie auf eine vermeintliche "Leitkultur" zu verpflichten.

Allerdings setzt dies voraus, dass sich die Europäer darüber einig sind, welchen Stellenwert ihre eigene religiöse, eben christliche Tradition besitzt - und das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Zwar würden heute wohl nur wenige bestreiten, dass religiöse Glaubensentscheidungen und kultische Handlungen im Prinzip der Privatsphäre angehören. Aber der Kruzifix-Streit unterstreicht die Bedeutung der christlichen Tradition, die unter der Oberfläche eines vordergründigen Commonsense-Laizismus fortwirkt.

Spätestens wenn die symbolische Besetzung öffentlicher Räume zur Debatte steht, keimen Konflikte mit christlich-islamischer Grundierung auf, dann also, wenn die Ausübung der Religion aus dem Hinterhof der Privatsphäre hinausdrängt und sichtbar zu werden verspricht. Das Schweizer Referendum gegen die Minarette lässt grüßen.

Erschwert wird die Diskussion dadurch, dass sie einen geradezu "identitären" Charakter angenommen hat, das heißt: In ihr wird das imaginäre und im globalisierten Europa ohnehin schwer fassbare "Eigene" zunehmend in Form des "Anderen", des Nicht-Europäischen verhandelt. Allzu häufig wird dabei dieses "Andere", nämlich die Präsenz der Muslime, undifferenziert und als ebenso monolithische wie bedrohliche Einheit betrachtet. Auf solchem Nährboden entstehen Freund-Feind-Denken, Ausgrenzung und Xenophobie. Entsprechend leidenschaftlich verläuft die Diskussion, wobei freilich Unsicherheit die Schwester der Leidenschaft ist: Unsicherheit über die eigene, europäische Identität angesichts einer scheinbar einheitlichen und festgefügten islamischen Identität.

Will man aber den "clash of civilizations" nicht herbeireden, sondern ihn vermeiden, dann muss der zweite Schritt gemacht und nachhaltig eingeübt werden. Er lautet: Kraft zur Unterscheidung. Es ist keine Verharmlosung, darauf hinzuweisen, dass inakzeptable Gewalttaten oder Verletzungen der Meinungsfreiheit durch Muslime die Ausnahme sind. Selbst die als frauenfeindlich empfundene strenge religiöse Praxis ist unter den europäischen Muslimen, wie neuere Studien zeigen, nicht sehr weit verbreitet.

So betrug die Zahl der kopftuchtragenden Schülerinnen in Frankreich bis zum Jahre 2003 nicht mehr als circa 1250. Und nach einer Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wollen nur vier Prozent der deutschen Muslime ihre Töchter vom Sexualkundeunterricht fernhalten. In der Gesamtbevölkerung liegt der Durchschnitt dagegen bei 15 Prozent: Offensichtlich ist der Prozentsatz katholischer oder anderer Fundamentalisten in dieser Frage höher als bei der muslimischen Bevölkerung. Alarmistische Stimmen, die von der schleichenden "Islamisierung" Europas sprechen, differenzieren hier nicht mehr und drohen die Kraft zur Unterscheidung zu zerstören.

Aber erst die Fähigkeit zu unterscheiden erleichtert es drittens, Gesetzesübertretungen von Muslimen ihres kulturellen Überbaues zu entkleiden und sie ohne ausufernde Identitätsdiskussionen zu ahnden. "Ehrenmorde" und "Hassprediger", Einschränkung der Meinungsfreiheit durch Nötigung, der Mord an Theo van Gogh - dies alles sind weder Hirngespinste noch Kleinigkeiten, aber sie sind Sache von Polizei und Justiz.

Keine falsche Nachsicht im Namen der Toleranz

In Europa lebende Muslime müssen die Rechtsordnung und die Gesetze ihrer neuen Heimat ebenso akzeptieren und beachten wie die ansässige Bevölkerung; Übertretungen müssen konsequent verfolgt werden. Das bedeutet freilich: keine falsche Nachsicht im Namen der Toleranz, konsequente Anwendung der bestehenden Gesetze und keine Scharia in Europa.

Am wichtigsten ist aber viertens das Vertrauen in die befreiende und verändernde Kraft der Menschenrechte, der Demokratie und des freiheitlichen Individualismus. Denn die europäische Idee von der rechtlichen Gleichheit und der egalitären Würde des Menschen zieht auch außereuropäische Migranten an und wirkt auf sie integrativ. "Als Gleiche haben die Menschen gemeinsame Angelegenheiten" (Niklas Luhmann), und es ist längst nicht ausgemacht, dass die Idee eines "Euro-Islam", das heißt eines Islam, der dem Islamismus absagt und sich den westlichen Grundwerten anverwandelt, ohne Chance sei.

Wer die Möglichkeit solcher kulturellen Anverwandlungsprozesse leugnet, der kennt die Geschichte nicht und muss sich fragen lassen, ob er nicht einem statischen, ja essentialistischen Kulturbegriff anhängt. Mithin vollzieht sich der Weg aus dem europäischen Dilemma als langfristiger und vielleicht schmerzhafter historischer Prozess. In seinem Verlauf wird sich Europa verändern, und der Islam ein Teil von ihm werden. Aber wann in der Geschichte hätte sich Europa nicht verändert, und wann waren Veränderungen nicht zugleich auch schmerzhaft?

Der Autor, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ist seit 1.April 2011 Direktor des Instituts für Zeitgeschichte. Seine "Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert" ist kürzlich in der Reihe "C.H.Beck Wissen" in dritter Auflage erschienen.

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Quelle:
SZ vom 27.04.2011/jab
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