Süddeutsche Zeitung

Muslime:Fastenmonat ohne Fasten

Islamische Theologen beweisen in der Krise bemerkenswerte Flexibilität. Den Ramadan zu verschieben geht zwar nicht. Aber es gibt schon Möglichkeiten, ihn kreativ zu gestalten.

Von Tomas Avenarius

Wenn schon die heiligen Stätten in Mekka und Medina fast leer und die Tore der Moscheen quer durch die islamische Welt für die Gläubigen verschlossen sind, kann auch der Ramadan nicht mehr das sein, was der Ramadan ist: ein Monat der Gemeinsamkeit, der Innerlichkeit, aber auch des maßlosen Völlerns. Am 23. April beginnt der heilige Fastenmonat der Muslime, ein Eckstein islamischen Lebens. Alle Angehörigen der Ummah, der muslimischen Weltglaubensgemeinschaft, fasten gemeinsam. 30 Tage lang geht es ebenso um religiöse Verinnerlichung wie um Familie, Freunde, Lebensfreude.

In Corona-Zeiten ist schlicht unvorstellbar, was sonst normal ist: Die Gläubigen fasten 30 Tage lang von morgens an, verzichten auf Trinken, Rauchen, Sex. Am Abend, nach dem Ruf des Muezzins, wird das Fastenbrechen mit einem einfachen Mahl zelebriert, gemeinsam, meist auf der Straße, an langen Tafeln. Was diesem "Iftar" folgt, sind endlose Festessen in den eigenen vier Wänden, ausufernde Fernsehabende mit den populären Ramadan-Serien, überlange Abende im Shisha-Zelt oder Teehaus. Und da der Islam gemeinschaftlich ausgerichtet ist, wird all das in der Großfamilie, mit Nachbarn, Freunden oder Kollegen getan. Der Fastenmonat, der den Eigenheiten des islamischen Mondkalenders folgend durch das Jahr wandert, ist für Muslime aber ebenso eine Zeit religiöser Einkehr, mit zusätzlichen Gebeten oder Gesängen in Moscheen.

"Absagen" lässt sich der Ramadan selbst in Corona-Zeiten aus theologischen Gründen nicht. Er ist eine der "fünf Säulen des Islam", diese sind strukturell mit den Zehn Geboten für Juden und Christen vergleichbar. Nach hinten verschoben werden kann der Fastenmonat als neunter Monat des islamischen Kalenders ebenfalls nicht, der Kalender und damit die Abfolge der Monate gelten als gottgegeben.

Wie ihre jüdischen und christlichen Kollegen sind islamische Theologen aber findig. Mohamed al-Issa, Generalsekretär der Islamischen Weltliga, etwa urteilte: "Die Scharia verbietet das Beten, solange der Gläubige noch nach Essen aus dem Mund riecht." Daraus folgert der Saudi für die Corona-Moderne: "Das gilt umso mehr, wenn es um einen tödlichen Virus geht." Das dem Muslim vorgeschriebene Fasten, so führende Geistliche, könne im Corona-Ausnahmefall nachgeholt, das gemeinsame Beten in Notfällen durch das Gebet des Einzelnen ersetzt werden: So soll es der mitunter sehr pragmatische Prophet Mohamed selbst gesehen haben.

Nicht so einfach ist es mit dem Fasten, aber auch hier ist der Islam nicht starr. Kinder, Kranke, Reisende und Schwangere sind ohnehin immer vom Essensverzicht ausgenommen. Und Corona ist eine Krankheit. Die Al-Azhar-Universität in Kairo, die den Titel der obersten sunnitischen Lehrautorität für sich beansprucht, meint daher, dass das Fasten in dieser einmaligen Situation auch von der Mehrheit der Gläubigen einfach später vollzogen werden kann. Khaled Omran, Generalsekretär des Fatwa-Rates, einer Abteilung des ägyptischen Justizministeriums, sagte der ARD zudem: "Die Gläubigen können die Gebete nach der Krise nachholen." Ähnlich flexibel gibt sich auch der Zentralrat der Muslime in Deutschland, deren Moscheen ebenso geschlossen sind wegen Corona: "Die Unversehrtheit der Menschen ist dabei nicht nur Bürgerpflicht, sondern steht im vollkommenen Einklang mit unseren Glaubensbestimmungen", so der Vorsitzende Aiman Mazyek.

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SZ vom 09.04.2020
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