Glosse:Das Streiflicht

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Weihnachtsmusik kann gefährlich sein. Manches spricht dafür, dass das Schallwellenprofil der „Weihnachtsbäckerei“ sogar einen, wenn auch geringen Anteil am Abschmelzen der Gletscher hat.

(SZ) Wer als Kind häufig „In der Weihnachtsbäckerei“ gehört hat, neigt im Erwachsenenleben dazu, einen Cupra zu fahren und streamt gerne Ludovico Einaudi. Die Fähigkeit zur Annahme fremder Kritik ist bei ehemaligen Weihnachtsbäckereinutzern nach der Pubertät weniger ausgeprägt als bei Menschen, die als Kinder nicht dieses Lied gehört haben. Dafür ist bei der Weihnachtsbäckereihörerschaft ein Hang beobachtbar, stärker gewürzte Speisen zu meiden. Zwar hat die Bertelsmann-Stiftung diese Zusammenhänge noch nicht empirisch nachgewiesen. Manches spricht dennoch dafür, dass das spezifische Schallwellenprofil der „Weihnachtsbäckerei“ einen, wenn auch geringen Anteil am Abschmelzen der Gletscher hat. Weihnachtsmusik, so viel steht fest, gefährdet generell die mentale Gesundheit, wenn sie außerhalb der eigenen Wohnung gespielt wird. Bachs Weihnachtsoratorium im Konzertsaal ist okay. Überhaupt neigen Bach-Hörerinnen und -Hörer dazu, kaum AfD zu wählen.

Besonders bedauernswert sind im Dezember jene Menschen, die in Kaufhäusern und vergleichbaren Einrichtungen als Beraterinnen, Kassierer oder Sicherheitsleute Dienst tun müssen. Sie sind täglich acht Stunden lang „Feliz Navidad“ und dessen akustischen Schwestern und Brüdern ausgesetzt. Es geht ihnen ähnlich wie 1989 Manuel Noriega. Zu Weihnachten 1989 hatte sich der panamaische Staatspräsident und Drogenbaron Manuel Noriega in der Botschaft des Vatikan in Panama City verschanzt. Kurz zuvor waren US-Truppen in Panama eingefallen, um Noriegas Herrschaft zu beenden. Weil die Amis Noriegas Quasi-Kirchenasyl nicht gewaltsam brechen wollten, beschallten sie die Botschaft rund um die Uhr mit  unüberhörbarer Musik. Zwar war die Weihnachtsbäckerei nicht dabei, wohl aber Van Halen, U 2, Guns N’ Roses und andere damalige Krawallmaxen. Im Januar gab Noriega, der angeblich gerne italienische Opern hörte, entnervt auf.

Seltsamerweise versuchen Kaufhausgewaltige in diesen Wochen einen umgekehrten Noriega-Effekt zu erzielen. Sie wollen mit einer Last-Christmas-Dauerschleife Menschen anlocken und den Umsatz steigern. Betritt man so ein Haus, muss man sich durch einen klingeligen Klangsumpf klämpfen – wegen der Alliteration ist klämpfen hier besser als kämpfen –, bevor man in schlimmeren Fällen auch noch einem Verkäufer entgegentritt, der eine Nikolausmütze trägt. Auch draußen ist man nicht unbedingt vor dem klomerziellen Klangsumpf sicher, weil in jeder Fußgängerzone mindestens ein Weihnachtsmarkt lauert. Was für die Nase der Glühwein ist, ist für die Ohren George Michael. Natürlich ist es jedermann und jederfrau freigestellt, wie sie in Weihnachtsstimmung – was genau ist das eigentlich? – geraten wollen. Wem dazu Mariah Carey oder Dean Martin helfen, hat möglicherweise als Kind ein bisschen zu oft die „Weihnachtsbäckerei“ gehört.

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