Mursis Wahl zum ägyptischen Präsidenten:Vom arabischen zum islamistischen Frühling

Mit dem neuen Präsidenten Mursi kommen Ägyptens Muslimbrüder an die Macht. Eine "Ayatollisierung" des Landes ist dennoch nicht zu befürchten. Politische Zwänge lassen auch den Islamisten nur wenig Spielraum. Die meisten Ägypter haben ohnehin ganz andere Probleme.

Avi Primor

Ein Muslimbruder wird der erste frei gewählte Präsident Ägyptens: Mohammed Mursi. Schon aus den ägyptischen Parlamentswahlen Ende 2011 sind die Islamisten als klare Sieger hervorgegangen; aus dem arabischen wird zunehmend ein islamistischer Frühling. Schon einmal gab es einen vergleichbaren Prozess: Der iranische Frühling im Jahr 1979 endete mit der Machtergreifung der Islamisten.

A street vendor sells merchandise of the Muslim Brotherhood during a celebration for victory in the election at Tahrir square in Cairo

Vormarsch der Islamisten: Während einer Feier nach dem Sieg von Ägyptens neuem Präsidenten Mohammed Mursi versucht ein Straßenverkäufer auf dem Kairoer Tahrir-Platz, Produkte mit Logos der Muslimbrüder zu verkaufen.

(Foto: REUTERS)

Ähnliches geschah in Tunesien, geschieht nun in Ägypten. Auch in Syrien wird es wahrscheinlich nicht viel anders kommen, wenn das Assad-Regime erst einmal beseitigt ist. Bedeutet dies, dass die gesamte islamische Welt sich schrittweise "ayatollisiert", der arabische Raum sich Iran annähert, wie es Mursi gleich nach seinem Sieg angekündigt hat?

Die Beziehung zwischen Ägypten und Iran hatte sich seit der iranischen Revolution 1979 bis zum Äußersten verschlechtert. Soll nun also der Frieden zwischen dem neuen ägyptischen Regime und dem iranischen Ayatollah wieder aufgebaut und damit allmählich eine fundamentalistische Herrschaft in der islamischen Welt gesichert werden?

Allerdings: Jener der beiden Präsidentschafts-Kandidaten, der vor dem Wahltag sagte, er wolle neue Brücken zu Iran bauen, war nicht Mursi, sondern ausgerechnet der ehemalige Regierungschef Mubaraks, Ahmed Schafik, Kandidat der heutigen Militärmachthaber.

Mohammed Mursi, dem Kandidaten der sunnitischen Mehrheit Ägyptens, liegen dagegen eher die Rivalitäten zwischen Sunniten und Schiiten am Herzen. In seinem Lager wird der Machtkampf zwischen den zwei Glaubensrichtungen in der islamischen Welt als erheblich wichtiger betrachtet als jeglicher Aufstand gegen den Westen oder der Kampf gegen Israel. Das kommt in verschiedenen Bereichen zum Ausdruck.

Staatsräson ist zentral

Zunächst zum Thema Israel: Iran erklärt immer wieder, Israel vernichten zu wollen - die Islamisten in Ägypten sehen das anders. Wenn sich die Spitzenpolitiker der Muslimbrüder überhaupt zu Israel äußern, dann kritisieren sie die israelische Politik gegenüber den Palästinensern. Gleichzeitig aber bekennen sie sich zum Friedensvertrag mit Israel.

Dann sprechen die traditionell guten Beziehungen Ägyptens zu Saudi-Arabien dagegen, dass die Freundschaft des Landes zu Iran allzu eng wird. Denn sie würde eine Bedrohung für Saudi-Arabien und die Golfstaaten bedeuten; eine neue Allianz zwischen Ägypten und Iran würde für sie die Gefahr noch größer machen. Doch scheint das Gegenteil zu geschehen.

Die Islamisten denken, wie so oft in der Geschichte, eher an die Staatsräson als an Ideologie. Die Staatsräson gebietet zunächst, die amerikanische Freundschaft aufrechtzuerhalten, die der maroden Wirtschaft Ägyptens 1,3 Milliarden Dollar jährlich einbringt. Dies bedeutet natürlich auch, Frieden mit Israel zu halten, nicht nur weil Ägypten sich in der heutigen Situation keinen Krieg gegen Israel leisten kann, sondern auch, weil ein Krieg das Ende der amerikanischen Hilfe bedeuten würde.

Staatsräson für Ägypten bedeutet auch, die Freundschaft mit Saudi-Arabien zu stärken. Das Land sieht sich als Schutzmacht des sunnitischen Islams; Saudi-Arabien hat aber auch ein eigenes Interesse an der Freundschaft mit Ägypten. Dem neuen Regime hat es zweieinhalb Milliarden Dollar Hilfe versprochen - fast das Doppelte der amerikanischen Unterstützung. Freundschaft mit Saudi-Arabien und damit auch mit den USA bedeutet: Es wird keine substanzielle Änderung in der Mubarak-Außenpolitik geben.

Auch innenpolitisch kaum Spielraum für Islamisten

Heißt das, dass Fundamentalismus seine Bedeutung in Ägypten verloren hat? Das sollte man natürlich nicht behaupten. Aber die Zwänge, denen das neue ägyptische Regime unterworfen ist, finden sich nicht nur in der Außen- und Regionalpolitik. Auch in der Innenpolitik hat die islamistische Mehrheit nur wenig Spielraum.

Zunächst kann sich heute kein Regime in Ägypten einen Machtkampf mit der Militärführung erlauben. Manche aus dem islamistischen Lager hätten sich gerne ein Beispiel an dem türkischen Premier Erdogan genommen, der nach etwa 70 Jahren türkischer Republik zum ersten Mal wahrhaftig das Militär aus der Politik drängte.

Der Vergleich ist aber falsch. Erdogan konnte sich den Machtkampf mit dem Militär leisten, weil er politisch und vor allem wirtschaftlich erstaunlich erfolgreich war und ist und ihn deshalb die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. In Ägypten wird es dagegen noch sehr lange dauern, bis irgendein Regime wirtschaftliche Erfolge erzielen oder zumindest den gefährlichen Rückgang der ägyptischen Wirtschaft stoppen kann.

Bis dahin werden die Streitkräfte, die unter anderem auch über einen Großteil der ägyptischen Wirtschaft bestimmen, für jedes Regime unausweichlich ein Partner bleiben. Und solange die Bevölkerung von einer Verbesserung der Wirtschaft nicht profitiert, werden sie auch keinen Machtkampf der Islamisten gegen die Liberalen und gegen die Streitkräfte unterstützen.

Überhaupt muss man feststellen, wenn man die Augen nicht auf die englischsprachigen Studenten der amerikanischen Universität, die auf dem Tahrir-Platz demonstrieren, fixiert, wie es die meisten Weltmedien tun, dass die große Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung sich weder für Politik noch für Demokratie oder gar für Islamismus interessiert. Am meisten interessieren die Ägypter zwei Themen.

Probleme der Ägypter

Zunächst die Wirtschaft; für die meisten bedeutet das: der tägliche Überlebenskampf. Und dann die persönliche Sicherheit. Sie ist wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation prekär geworden. Aus der Verzweiflung heraus wächst das Verbrechen, während die Polizei und die Armee zunehmend machtlos sind und die Bevölkerung nicht schützen können.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten in Ägypten etwa zwei Millionen Menschen. Sie lebten, wie auch im Laufe der tausendjährigen Geschichte des Landes, hauptsächlich vom Nil. Heute leben in Ägypten 87 Millionen Menschen, und die Quellen des Nils, an deren Ufern die Bevölkerung genauso gewachsen ist, können sie längst nicht mehr alle versorgen.

Ägypten, einst die "Tochter des Nils", leidet heute unter Wasserknappheit. Das ist ein eindrucksvolles Zeichen dafür, wie es insgesamt der ägyptischen Wirtschaft geht. Ein Regime, das religiöse Experimente und außerpolitische Abenteuer wagt, statt sich diesen Problemen zu widmen, wird sich in Ägypten nicht halten können.

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