Murat Kurnaz ist 1982 als Sohn türkischer Einwanderer in Bremen geboren. Kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 flog er nach Pakistan, angeblich um mehr über den Islam zu erfahren. Dort wurde er als mutmaßlicher Anhänger der radikalislamischen Taliban festgenommen und von den Amerikanern zuerst nach Afghanistan, dann ins US-Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba gebracht. Jahrelang wurde er in Drahtkäfigen gefangengehalten und auf unterschiedliche Weise gefoltert.
Kurnaz konnte keine Verwicklung in Terroraktivitäten nachgewiesen werden, die USA hielten ihn schon bald für harmlos. Schon 2002 bot die amerikanische Regierung Deutschland an, Kurnaz freizulassen. Das zuständige Gremium im Kanzleramt, dem unter anderem der heutige SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier angehörte, lehnte seine Rückkehr mehrfach ab - mit Hinweis auf die türkische Staatsbürgerschaft von Kurnaz.
Erst am 24. August 2006 flogen ihn die Amerikaner nach Deutschland aus. Sein Schicksal beschäftigte zwei Untersuchungsausschüsse. Kurnaz schrieb ein Buch, trat im Fernsehen auf und wurde so der wohl bekannteste Guantanamo-Häftling: der Zausel mit dem roten Bart. Schon längst stehen auf dem Kopf und am Kinn nur noch Stoppeln, Kurnaz wird auf der Straße nur noch selten erkannt. Inzwischen ist er Familienvater und arbeitet als sozialpädagogische Fachkraft mit kriminellen und drogenabhängigen Jugendlichen in Bremerhaven. Das Interview mit sueddeutsche.de entstand bei einem Spaziergang an der Weser in Bremen-Hemelingen, wo er aufgewachsen ist.
sueddeutsche.de: Herr Kurnaz, die meisten Menschen kennen Sie als den Mann mit dem roten Rauschebart, den Sie nicht mehr tragen....
Murat Kurnaz: ... und als den mysteriösen Menschen, von dem man nicht weiß, ob er unschuldig ist. Leider glauben noch viele, dass ich supergefährlich bin.
sueddeutsche.de: Vor fünf Jahren sind Sie freigekommen nach fünf Jahren Gefangenschaft. Sprechen noch viele Leute Sie auf der Straße an?
Kurnaz: Hier in Bremen schon, woanders nicht so oft. Vor einiger Zeit habe ich mich mit einer Frau unterhalten über Guantanamo. Sie erkannte mich nicht. Sie fragte mich sogar, ob ich die Geschichte von Murat Kurnaz kenne.
sueddeutsche.de: Ohne die Terroranschläge vom 11. September 2001 wären sie nicht in Gefangenschaft geraten. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?
Kurnaz: Ich war auf dem Weg von meiner Ausbildungsstätte nach Hause. Ein Freund sagte mir in der Bahn: "In den USA ist ein Flugzeug abgestürzt." Zuhause sagte mir meine Mutter etwas von einem Erdbeben in den USA. Der Fernseher lief schon und man sah das brennende World Trade Center. Als dann das zweite Flugzeug reingekracht ist, war mir klar, dass das kein Unfall sein kann.
sueddeutsche.de: Wenige Monate später wurden Sie in Deutschland berühmt, in den Boulevardmedien nannte man Sie "Bremer Taliban". Der Verdacht lautete: Sie seien im Oktober 2001 nach Pakistan gereist, um sich - inspiriert durch den 11. September - den Islamisten anzuschließen.
Kurnaz: Was nicht stimmt. Ich hatte meine Reise nach Pakistan lange vor dem 11. September geplant.
sueddeutsche.de: Aber die US-Angriffe auf Afghanistan begannen unmittelbar vor Ihrer Reise. Warum sind Sie trotzdem geflogen?
Kurnaz: Ich dachte: Was hat Pakistan damit zu tun? Das ist doch ein anderes Land. Ich war sicher, dass es keine Komplikationen geben würde.
sueddeutsche.de: Damals schien der deutschen Öffentlichkeit der Fall klar zu sein. Im Spiegel war zu lesen, auf ihrem Handydisplay sei beim Einschalten das Wort "Taliban" erschienen. Was war da dran?
Kurnaz: Das ist erfunden! Ich kannte bis zu meiner Haftzeit die Taliban nicht, ich wusste nicht, wo sie herkommen und für was die stehen, dieses Wort war mir fremd. Ich hatte auch keine Ahnung von al-Qaida und Osama bin Laden. Ich war 19 und politisch nicht interessiert.
sueddeutsche.de: Zehn Jahre liegt ihre Gefangennahme in Pakistan zurück. War es aus ihrer heutigen Sicht nicht völlig naiv, in solch eine Krisenregion zu fliegen?
Kurnaz: Als 19-Jähriger denkt man anders, als ein 29-Jähriger. Heute würde ich anders entscheiden. Damals hatte ich gerade geheiratet. Meine damalige Frau stammte aus einer religiösen Familie und sollte im Herbst von der Türkei nach Bremen kommen. Bis dahin wollte ich mehr über meinen Glauben erfahren, denn ich wusste nicht wirklich viel. Und außerdem wollte ich ein Abenteuer erleben. So wie andere mit 19 nach Amerika oder Indien fahren.
sueddeutsche.de: Ein Abenteuer wurde diese Reise, allerdings anders, als Sie sich das vorgestellt hatten: Sie wurden in Pakistan aufgegriffen, dann von den Amerikanern ins afghanische Kandahar gebracht und landeten schließlich im Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba. Haben Sie während dieser fünf Jahre Phasen, in denen Sie ans Aufgeben gedacht haben?
Kurnaz: Nein, aufgeben wollte ich nicht. Aber mir war nicht klar, ob ich das überleben werde. Oder ob ich als alter Mann wieder nach Hause darf.
sueddeutsche.de: Sie wurden immer wieder gefoltert. Wie halten Sie diese Erinnerungen aus?
Kurnaz: Ich komme gut damit zurecht. Ich habe keine Alpträume.
sueddeutsche.de: Andere Folteropfer sind traumatisiert fürs Leben, manche drehen durch wie Khaled el-Masri oder werden Terroristen. Wie erklären Sie sich, dass sie mit der Vergangenheit relativ gut klarkommen?
Kurnaz: Meine Religion hilft mir. Ich mache viel Sport, das ist auch ein Ausgleich. Aber die Gefangenschaft hat mich schon verändert. Ich weiß jetzt, was wirklich wichtig ist: Menschenrechte, Gerechtigkeit und die einfachen Dinge im Leben.
sueddeutsche.de: Welche einfachen Dinge meinen Sie?
Kurnaz: Nachdem ich in Haft war und teilweise eisiger Kälte ausgesetzt war, weiß ich zum Beispiel, wie wichtig Socken sind. Mir ist klar geworden, wie gut ich es eigentlich habe. Was ich schade finde, ist die Unzufriedenheit vieler anderer Menschen.
sueddeutsche.de: Was stört Sie?
Kurnaz: Es gibt Dinge, die 99 Prozent der Menschen in Deutschland haben: Wie Unterwäsche, sauberes Wasser, eine Heizung. Nur man denkt daran nicht und freut sich nicht über diese einfachen Dinge. Der Mensch will mehr, immer mehr. Manche müssen unbedingt ein tolles Auto fahren. Andere fragen sich, warum sie keine Frau haben, die wie ein Top-Model aussieht. Es gibt Menschen, die sich dadurch kaputt machen.
sueddeutsche.de: Gibt es Tage, an denen Sie nicht an Guantanamo zurückdenken?
Kurnaz: Klar kommt das vor. Ich bin ein froher und zufriedener Mensch. Aber immer, wenn ich etwas Schönes unternehme, kommt das automatisch zurück in den Kopf. Ich denke mir dann: Ich bin fröhlich, mir geht es gut, ich fühle mich wohl. Aber ich darf mich auch nicht so sehr amüsieren. Wie kann ich mich amüsieren, wenn irgendwo andere gefoltert werden? Es sind noch fast 200 Menschen in Guantanamo. Und es gibt in vielen Ländern Knäste, wo noch schlimmer gefoltert wird.
sueddeutsche.de: Haben Sie ein schlechtes Gewissen, weil sie draußen sind und die anderen Gefangenen nicht?
Kurnaz: Nein, ich genieße ja mein Leben. Aber ich möchte nicht vergessen, dass andere Menschen leiden. In Afrika verdursten kleine Kinder in den Armen ihrer Mütter - es gibt viel Schlimmeres als Guantanamo. Eigentlich müsste die ganze Welt aufstehen und sagen: Wir lassen das nicht zu, wir unternehmen etwas.
sueddeutsche.de: Früher war ihnen das nicht bewusst?
Kurnaz: Mit 19 war mir das alles egal, ich habe einfach nicht darüber nachgedacht. Auch das Leid von Tieren beschäftigt mich heute: Tierversuche und in welchen Verhältnissen sie leben müssen. Ich habe im Internet gesehen, wie ein Schwein in China gemästet wurde, bis es vor Fett nicht mehr stehen konnte. Das war Folter.
sueddeutsche.de: Als gläubiger Muslim kümmert Sie das Schicksal von Schweinen?
Kurnaz: Ich esse kein Schweinefleisch und meine Religion verbietet mir, Schweine anzufassen. Aber sie sind genauso Lebewesen und von Gott gemacht.
sueddeutsche.de: Herr Kurnaz, die Anschläge vom 11. September wurden von Al-Qaida-Terroristen verübt. Wer ist verantwortlich dafür, dass Sie fünf Jahre ihres Lebens in Gefangenschaft verbracht haben?
Kurnaz: Osama bin Laden ist daran Schuld. Aber dass ich so viele Jahre unschuldig in Folterhaft gesessen habe, verdanke ich auch dem damaligen US-Präsident George W. Bush und dem früheren Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier.
sueddeutsche.de: Steinmeier, heute SPD-Fraktionschef, lehnte das Angebot der der Amerikaner ab, Sie nach Deutschland zurückzuholen.
Kurnaz: Mehrfach hatte er die Chance, mich rauszuholen. Von Terroristen erwarte ich keine Entschuldigung, aber von Regierungen und verantwortlichen Politikern.
sueddeutsche.de: Immerhin haben das Vertreter des US-Kongresses getan, auch der Bremer Bürgermeister Jens Böhrnsen.
Kurnaz: Das war zwar nett, aber es ändert nichts. Wenn ich Ihnen eine Backpfeife gebe, bringt es Ihnen ja auch nichts, wenn sich mein Nachbar bei Ihnen entschuldigt, oder?
sueddeutsche.de: In der Zeit nach dem 11. September war die Angst vor einem Terroranschlag auch in Deutschland weitverbreitet, Sie stellten ein potentielles Sicherheitsrisiko dar. Können Sie das nachvollziehen?
Kurnaz: Das verstehe ich. Ich akzeptiere auch, dass Steinmeier mich nicht sofort zurückgeholt hat. Die deutsche Regierung wollte auf Nummer sicher gehen. Deshalb schickten die zwei Profis nach Guantanamo, die mich verhört haben. Sie glaubten mir, dass ich unschuldig bin. Trotzdem hat Steinmeier verhindert, dass ich zurückkomme. Und so ein Mann ist jetzt einer der beliebtesten Politiker Deutschlands.
sueddeutsche.de: Steinmeier sagt inzwischen, er bedauere ihren Fall.
Kurnaz: Er meinte auch, er will sich nicht entschuldigen, denn entschuldigen könnte er sich nur für eine falsche Tat. Aber heute würde er diese Entscheidung noch einmal so treffen. Ich halte Steinmeier für einen falschen Menschen. Solche Leute gehören nicht in die Politik.
sueddeutsche.de: So wütend wie sie auf Frank-Walter Steinmeier sind, so dankbar dürften Sie Angela Merkel sein. Die Bundeskanzlerin sorgte für ihre Rückkehr am 24. August 2006.
Kurnaz: Dankbar bin ich ihr, aber auch bei ihr steckt eine Menge politisches Spiel dahinter. Mein Anwalt und ich haben Dokumente, die das zeigen. Die Amerikaner schlugen der deutschen Regierung vor, meine Freilassung könnte man als politischen Erfolg hinstellen.
sueddeutsche.de: Was halten Sie von US-Präsident Barack Obama? Der hat als erste Amtshandlung verboten, bei Verhören zu foltern.
Kurnaz: Auch unter Bush wurde offiziell nicht gefoltert, sondern nur 'hart verhört'. Ich bin enttäuscht von Obama. Er hat versprochen, Guantanamo innerhalb eines Jahres aufzulösen - es ist nicht passiert. Die Häftlinge haben immer noch keine Rechte: Nicht einmal ihre Familien dürfen sie besuchen.
sueddeutsche.de: Was soll Ihrer Meinung nach mit den verbliebenen Gefangenen passieren?
Kurnaz: Jeder sollte einen fairen Prozess bekommen, wie jeder andere Kriminelle auch. Wer sich schuldig gemacht hat, soll ins Gefängnis - und wenn es für immer ist. Aber die anderen soll man endlich nach Hause lassen.
In der der Süddeutschen Zeitung erschien am 22. August auf der Seite Drei die Reportage "Ein Freier Mann" über Murat Kurnaz.
Kurnaz' Schicksal steht auch im Mittelpunkt des Dokumentarfilmes "Die Guantanamo-Falle", der am 3. September vom NDR ausgestrahlt wird.