Unmut über Betreuungsgeld:"Aber sie brauchen das Geld doch nicht"

Ihr Revier: Das geächtete Armenhaus der Nation. Die Mitarbeiter des Vereins "Aufbruch Neukölln" kämpfen gegen häusliche Gewalt und für mehr Bildung in türkischen Familien - und sie sind stinksauer auf Horst Seehofer: Der bayerische Ministerpräsident habe das Betreuungsgeld durchgeboxt. Für privilegierte Mütter, die es sich leisten können, nicht zu arbeiten.

Constanze von Bullion, Berlin

Koalition raeumt Streitfragen ab

Die Mitarbeiter des Vereins "Aufbruch Neukölln" kämpfen gegen häusliche Gewalt und für mehr Bildung in türkischen Familien. Vom Betreuungsgeld halten sie gar nichts.

(Foto: dapd)

"Machen die das jetzt wirklich?", fragt Yüksel Gök irgendwann. Es klingt, als würde sie noch auf ein Wunder hoffen, oder dass es Verstand regnet vom Himmel. Der Kalif aber winkt ab, es regnet nicht. "Ja, die machen das", antwortet er. "Diese hirnrissige Maßnahme."

Mittwochnachmittag in der Herzkammer des Vereins "Aufbruch Neukölln", im Büro von Kazim Erdogan geht es um das Betreuungsgeld, das diesen Freitag im Bundestag verabschiedet wird. Neben dem Zorn rauscht hier der Wasserkocher, drei Männer und eine Frau sitzen zusammen, es gibt Tee und Äpfel aus dem Garten des Bezirksamts, schön sauer und kernig, wie Neuköllner halt so sind.

Das hier ist die Beratungsstelle des Psychosozialen Dienstes Neukölln, jeden Tag ergießt sich in dieser ehemaligen Kita der Kummer einer der ärmsten Gegenden Deutschlands über einen schmalen Mann, der die Natur eines Marathonläufers zu besitzen scheint. Kazim Erdogan ist 59 Jahre alt und "Berufsoptimist", wie er sagt. Seit 2003 arbeitet er hier als Psychologe und hat Deutschlands erste türkische Vätergruppe gegründet. Manche nennen ihn schon den "Kalifen", weil er aus Neukölln, diesem geächteten Armenhaus der Nation, ein funktionierendes, selbstbewusstes Gemeinwesen machen will.

Entsetzen statt Schnapsladen

Bei Erdogan treffen sich Väter, die mit Arbeitslosigkeit kämpfen, mit Spielsucht, Schulden oder Trennung, auch mit der eigenen Gewalt, die sie an Frauen und Kindern auslassen. Zu "Aufbruch Neukölln" gehören aber auch Mütter, die einander raushelfen aus der Isolation, in die viele muslimische Frauen in Berlin geraten sind. "Es wird viel über solche Menschen geredet, aber viel zu selten mit ihnen", sagt Erdogan, dessen Engagement inzwischen bundesweit kopiert wird und das ihm den Bundesverdienstorden bescheren wird.

Darum aber geht es nicht an diesem Tag, sondern um "die Maßnahme", also das Betreuungsgeld, das die Bundesregierung Eltern zahlen will, die kleine Kinder zu Hause betreuen, statt sie in die Kita zu bringen. In Neukölln sorgt das nicht eben für Begeisterung und auch nicht für einen Sturm auf die örtlichen Schnapsläden, wie manche schon vorausgesagt haben. Sondern für Entsetzen. "Ein Riesenrückschritt", sagt Kazim Erdogan. "Ein Egoismus", sagt Yüksel Gök, "Ich dachte, wir sind eine Solidargemeinschaft."

Yüksel Gök ist Sonderpädagogin, sie berät Schulen, kommt aus Düsseldorf und aus einer kurdischen Familie, in der sie als einzige studiert hat. Aufstieg unter erschwerten Bedingungen, das kennt sie, weshalb sie stinksauer ist auf Bayerns Ministerpräsidenten Horst Seehofer, der das Betreuungsgeld durchgeboxt hat - für eine privilegierte Klientel, wie sie findet, für Mittelstandseltern, meist Mütter, die es sich leisten können, nicht zu arbeiten.

"Ich glaube, dass diese Mütter ihren Kindern viel geben können, weil sie gebildet sind", sagt sie. "Aber sie brauchen das Geld nicht." In Bildungsnotstandsgebieten wie Neukölln aber fehlt es. Also da, wo pausenlos bessere Deutschkenntnisse angemahnt werden, wo mancher Erstklässler keine Schere halten kann und Frauen mit Kopftuch für ihr altmodisches Selbstverständnis kritisiert werden. "Wir wollen doch mal weg von den traditionellen Rollenbildern", sag Yüksel Gök, "unsere Kinder brauchen Vorbilder." Jetzt kommt die Rolle rückwärts, befürchtet sie, jetzt wird Frauen, die ohnehin oft ausgebremst werden, jeder Anreiz genommen, arbeiten zu gehen.

Nehmen wir mal eine 26-Jährige, die Toiletten putzen geht, für 350 Euro im Monat, sagt Kazim Erdogan. Warum soll sie das tun, wenn sie schon beim zweiten Kind auf 300 Euro Betreuungsgeld kommen wird. Um den Job ist es vielleicht nicht schade, findet er, aber um die Zukunft der Familie. "Dann steht die drei Jahre am Herd und ist der schlechten Laune ihres Mannes ausgesetzt." Es gibt Streit, es fehlt Geld, aber das allein ist es nicht, sagt er. "Die Kinder verlieren den Anschluss, wenn sie nicht früh mit anderen ins Gespräch kommen." Andere, das sind Kinder deutschsprachiger Familien, aber auch solche aus gebildeteren Milieus, wo beide Eltern arbeiten.

Warum ist deine Sprache so grob?

Jetzt schaltet sich Aydin Bilge ein, der zwei Söhne allein großzieht und das Betreuungsgeld nicht mal geschenkt will. Bilge begleitet als "Kiezvater" Menschen mit Deutschproblemen aufs Amt. Er weiß, was Redenkönnen wert ist. "Warum ist deine Sprache so grob?", hat er neulich seinen Sohn gefragt. "Weil bei mir keine Deutschen in der Klasse sitzen", hat der Sohn geantwortet. Und dass der Vater doch lieber den Politikern solche Fragen stellen soll. Da hat Aydin Bilge an seinen türkischen Friseur gedacht, der seine Familie aus Neukölln weggebracht hat. Überall Ärger, sagt der Friseur, Drogen, Gewalt. "Er hat seine Kinder nach China geschickt." Weil die Frau des Friseurs Chinesin ist. Und weil es dort, wie er hofft, Ordnung gibt.

Die Ängste sind groß, und je ärmer die Menschen, desto größer ihre Hoffnungen, dass die Kinder mal mehr schaffen, sagt Kazim Erdogan. Nur, wie man das hinkriegt, wissen viele eben nicht. Jede Woche klopfen bei ihm Mütter an - mit und ohne Kopftuch - weil sie einen Kitaplatz suchen, dringend. In Berlin fehlen 15.000 Betreuungsplätze, auch in Neukölln. Die Zeche, sagt Yüksel Gök, zahlen neben Kindern hier vor allem Frauen aus konservativen Migrantenfamilien. Weil der morgendliche Gang zur Krippe oft der einzige Fluchtweg aus einer bedrückend engen Welt ist.

Yüksel Gök leitet bei "Aufbruch Neukölln" eine Müttergruppe, dort hat sie eine Frau um die 30 kennen gelernt, eine sehr religiöse Muslimin, die nach 14 Jahren in Berlin kaum ein Wort Deutsch sprach. Vier Kinder hatte sie geboren, und weil der Mann oft auf Nachtschicht war, haben die Schwiegereltern nach Kräften bei der Erziehung reingeredet. Jetzt hat sie für ihre jüngeren Kinder einen Betreuungsplatz gefunden, hat sich zu der Müttergruppe vorgearbeitet, sagt Yüksel Gök, raus aus der Isolation, will einen Deutschkurs machen. Wunder seien nicht zu erwarten, leider. "Aber es geht. Da tut sich was", sagt sie. Und dass es eben weit ist von Bayern nach Neukölln.

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