Süddeutsche Zeitung

Münster:"Ich erlebte das Unvorstellbare, die Hölle"

Ein 94-Jähriger muss sich vor dem Landgericht Münster verantworten, weil er einst Wachmann im KZ Stutthof war. Die grauenhaften Schilderungen der Opfer lassen selbst den ehemaligen SS-Mann nicht kalt.

Aus dem Gericht von Jana Stegemann, Münster

Als KZ-Aufseher nannten sie ihn "Bubi", auf der Anklagebank nennen sie ihn "Dr. R.". Um 9.59 Uhr wird der 94-jährige Johann R. im Rollstuhl in den Sitzungsaal A23 im Landgericht Münster geschoben.

Auf dem Kopf trägt er einen grünen Anglerhut, in der rechten Hand einen Gehstock, seine linke Hand hebt er in Richtung Zuschauerbereich. R. hat sich für seinen Prozess sorgfältig zurechtgemacht: gestärktes weißes Hemd, grauer Anzug, darüber eine Wolljacke, die ordentlich geschnittenen Fingernägel ruhen auf einer Aktentasche. Nur der grüne Anglerhut wirkt unpassend. R. nimmt ihn ab, weiße Haarsträhnen stehen wirr vom Hinterkopf ab. Niemand weist ihn darauf hin, auch seine beiden Anwälte nicht. Sein Blick ist angestrengt und müde, das Gesicht ist eingefallen. Die Kameras fangen jede Bewegung von ihm ein, verfolgen, wie er ganz langsam seine Brille aufsetzt.

Trotz seines hohen Alters muss sich R. vor einer Jugendkammer verantworten. R. war erst 18 Jahre alt, als er jenen Dienst antrat, der ihm nun viel später doch noch eine Anklage eingebracht hat: seinen Dienst als SS-Wachmann im deutschen Vernichtungslager Stutthof bei Danzig. Ihm wird Beihilfe zum Mord in Hunderten Fällen vorgeworfen. Sein Prozess könnte der letzte dieser Art in Deutschland sein, der letzte NS-Prozess der Bundesrepublik also. Die Zeit drängt. Mehr als 70 Jahre sind seit Kriegsende vergangen. Die meisten Täter sind tot oder nicht mehr verhandlungsfähig.

17 Nebenkläger aus den USA, Deutschland, Israel und Kanada verfolgen R.s Prozess durch ihre Anwälte. R.s Anwalt, Andreas Tinkl, meldet sich sofort nach der Begrüßung durch den Vorsitzenden Richter Rainer Brackhane. Sein Mandant wolle auf Pressefotos gepixelt werden, wegen seines fortgeschrittenen Alters und seiner körperlichen Verfassung und weil er in einer kleinen Gemeinde im Kreis Borken im Münsterland lebe.

Ob er alles verstehe, wird R. gefragt. Er hebt seine Hand zur Bestätigung. Als er zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt wird, ist zum ersten Mal seine heisere Stimme zu hören: "Ich bin mit 65 Jahren in den Ruhestand versetzt worden, bin geschieden und habe drei Kinder, alle erwachsen." Als er die Namen seiner Kinder sagen will, stoppt der Richter ihn, das sei nicht nötig. R. leitete nach seiner Promotion als Direktor eine Fachschule für Gartenbau in Nordrhein-Westfalen, war als solcher Beamter des Landes NRW.

Im Konzentrationslager war er 1943 zum SS-Sturmmann - das entspricht einem Gefreiten der Wehrmacht - befördert worden, er überwachte in dieser Funktion Arbeitskommandos und tat Dienst auf Wachtürmen. R. hat nie bestritten in Stutthof gearbeitet zu haben, will aber von den systematischen Tötungen nichts mitbekommen haben. 65 000 Menschen wurden von den Deutschen ermordet oder kamen in dem vergleichsweise kleinen Konzentrationslager aufgrund der harschen Bedingungen ums Leben. R.s Verteidiger und die zuständige Kammer warten noch auf ein rechtshistorisches Gutachten über die Verhältnisse im KZ Stutthof. Ein solches Verfahren dürfe nicht allein auf Erinnerungen aufbauen, hatten R.s Anwälte mitteilen lassen.

Die Details der Anklage sind nur schwer zu ertragen

Oberstaatsanwalt Andreas Brendel hatte für die Anklageschrift mit seinem Team mehr als 1000 Zeugenaussagen ausgewertet. Seit einigen Jahren setzt sich in der Justiz wieder die Rechtsauffassung durch, wonach auch unterstützende Tätigkeiten von KZ-Wachleuten als Beihilfe zum Mord eingestuft werden. Früher kamen meist nur Verdächtige vor Gericht, die sich direkt an der Tötung von Häftlingen beteiligt hatten.

"Dem Angeklagten waren sämtliche Tötungsmethoden in Stutthof bekannt, sie wurden auch ermöglicht durch seine Arbeit", sagte Brendel, der in Dortmund die "Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen" leitet.

Brendel verliest 16 Minuten lang die Anklageschrift. Die Details sind nur schwer zu ertragen. R. blickt starr geradeaus. Auch an der Stelle, wo Brendel über die Genickschüsse spricht. Häftlinge, die als nicht mehr "arbeitsfähig" eingestuft worden waren, wurden unter dem Vorwand einer ärztlichen Untersuchung - "immer vormittags zwischen zehn und elf Uhr" - in einen Nebenraum des Krematoriums gebracht. Sie sollten vermessen werden, sagte ihnen SS-Männer, die sich weiße Arztkittel zur Tarnung übergezogen hatten. Die Häftlinge stellten sich zu dem Zweck der Vermessung an eine Messlatte, auf Höhe des Genicks war eine kleine Öffnung zum Nebenraum und eine Auflage für eine schallgedämpfte Pistole angebracht. Aus dem Nebenzimmer wurden so Hunderte Menschen erschossen und kurz danach im Ofen gegenüber verbrannt.

Zur gleichen Zeit töteten SS-Ärzte und SS-Sanitäter in den Krankenrevieren 140 Gefangene - vor allem jüdische Frauen und kleine Kinder - durch die Injektion von Benzin und Phenol direkt ins Herz. Wieder andere Gefangene mussten sich bei Eiseskälte nackt ausziehen und vor den Baracken warten. Sie wurden mit kaltem Wasser übergossen und erfroren nach Stunden oder auch Tagen. 100 polnische Häftlinge und 77 sowjetische Kriegsgefangene wurden während R.s Arbeitszeit in Gaskammern und Waggons mit Zyklon B. vergast.

"Der Angeklagte sorgte dafür, dass keiner aus der Hölle entkommen konnte"

R. nimmt Brendels Worte mit unbeweglicher Miene zur Kenntnis. Er weint erst, als persönliche Erklärungen dreier Nebenklägerinnen durch deren Anwälte verlesen werden. R. hält seine Hände vor die Augen, wischt sich die Tränen ab. Es sei absolut unmöglich, dass ein Wachmann nichts mitbekommen habe, ist der Tenor der einen Erklärung, die Leichen und all die ausgemergelten Körper habe niemand übersehen können.

"Ich erlebte das Unvorstellbare, die Hölle. Jeden Morgen ein Haufen Leichen aufgestapelt vor den Baracken. Meine Mutter sah ich das letzte Mal, als wir nackt vor den Gaskammern standen", schreibt die 89-jährige Stutthof-Überlebende Judy Meisel aus den USA. "Stutthof war der organisierte Massenmord durch die SS - ermöglicht mit Hilfe der Wachmänner. Der Angeklagte sorgte dafür, dass keiner aus der Hölle entkommen konnte, er sorgte dafür, dass meine Mutter ermordet werden konnte."

Zwei Nebenkläger stellten im Anschluss an die Anklageverlesung den Beweisantrag zu einem Ortstermin in Stutthof mit allen Prozessbeteiligten - auch damit die Richter und Anwälte sehen könnten, dass das gesamte Lager von den Wachtürmen aus zu überblicken gewesen sei. Alle Nebenklagevertreter und sogar R.s Verteidiger schlossen sich an.

Der Prozess wird am Donnerstag fortgesetzt und wird sich bis in den Februar 2019 hinziehen, weil auf Rücksicht auf den Gesundheitszustand des Angeklagten Ruhepausen eingelegt werden müssen und täglich maximal zwei Stunden verhandelt werden darf. Ursprünglich sollte in Münster noch ein zweiter Stutthof-Wachmann auf der Anklagebank sitzen. Sein Verfahren wurde aber abgetrennt, da umstritten ist, ob der 93-jährige Mann aus Wuppertal verhandlungsfähig ist.

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