Münchner Sicherheitskonferenz:Was den Westen zusammenhält

Der Machtverlust des Westens ist evident, der Triumphalismus der Ära von George W. Bush eine peinliche Erinnerung. Doch arabische Freiheitskämpfer, chinesische Dissidenten, russische Bürgerrechtler - sie alle fordern nun Menschenrechte, Gewaltenteilung, Volkssouveränität. Der Westen kann sein Projekt niemandem aufzwingen, aber er kann sich selbst daran halten.

Heinrich August Winkler

Ein Neuanfang verlangt Pathos, und daran ließ es Präsident Barack Obama nicht fehlen, als er am 17. November 2011 vor dem australischen Parlament das asiatisch-pazifische Jahrhundert der Vereinigten Staaten ausrief.

Ägyptischer Junge auf dem Tahrir-Platz in Kairo während der Revolution im Februar 2011

Ägyptischer Junge auf dem Tahrir-Platz in Kairo während der Revolution im Februar 2011

(Foto: AP)

Er nannte es eine "deutliche Gewichtsverlagerung", dass die USA nach einem Jahrzehnt mit zwei blutigen Kriegen im Mittleren Osten ihre Aufmerksamkeit nunmehr dem großen Potential der asiatisch-pazifischen Region zuwendeten. Er nannte sein Land eine "pazifische Nation" und kündigte an, dass die USA im 21. Jahrhundert im asiatisch-pazifischen Raum überall dabei sein würden. Außenministerin Hillary Clinton sprach kurz darauf von einer "strategischen Umorientierung", die die globale Führungsrolle der Vereinigten Staaten sichern sollte.

Kein Zweifel: Der Strategiewechsel der USA markiert eine Zäsur. Die Zeit, in der die europäischen Demokratien die am stärksten umworbenen Partner waren, ist vorbei. Wir befinden uns, wie Richard N. Haass, der Präsident des Council on Foreign Relations in New York, es ausgedrückt hat, in der "Post-Atlantik-Ära der internationalen Beziehungen".

Absehbar war diese Entwicklung seit der Epochenwende von 1989/91, die das Ende des Kalten Krieges brachte. In den jugoslawischen Erbfolgekriegen der neunziger Jahre zeigte sich, dass die Europäische Union die ihr von Washington zugedachte Rolle als Ordnungsmacht auf dem Balkan noch nicht übernehmen konnte, die USA also erneut einspringen mussten.

Inzwischen gilt Europa als befriedet und so wenig bedroht, dass man es weitgehend sich selbst überlassen kann. Das Atlantische Bündnis wird durchaus noch gebraucht, aber weniger zum Schutz Europas vor einer eventuellen neuen Bedrohung aus dem Osten als zur Abwehr gemeinsamer Herausforderungen des Westens wie der durch den islamistischen Terror und Staaten, die ihm als Rückzugsräume dienen.

Nach dem Untergang des Kommunismus in Europa und im asiatischen Teil der Sowjetunion ist nicht das eingetreten, was der US-Philosoph Francis Fukuyama 1992 vorhersagte: die globale Durchsetzung des Ordnungsmodells der westlichen Demokratie. Die USA sind noch immer die mächtigste Nation der Welt, aber von weltweiter Hegemonie weit entfernt.

Sie sind im Zuge der Globalisierung der Finanzmärkte mittlerweile von der Volksrepublik China ähnlich abhängig wie diese von den USA: eine Entwicklung, die schon so weit gediehen ist, dass man wohl von einer wechselseitigen strukturellen Nichtangriffsfähigkeit sprechen kann. Richard Haass bezeichnet die "Non-Polarität" als das Hauptmerkmal des 21. Jahrhunderts: "Die Welt wird von Dutzenden Akteuren geprägt, die jeweils über unterschiedlich große militärische, wirtschaftliche und kulturelle Macht verfügen." Der Machtverlust des Westens ist evident, der Triumphalismus der Ära von George W. Bush eine peinliche Erinnerung.

"Global betrachtet sind die größten europäischen Staaten politische Zwerge"

Europa könnte das Ende der amerikanischen Vormundschaft als seinen Erfolg verbuchen, wenn es denn inzwischen gelernt hätte, mit einer Stimme zu sprechen. Doch davon ist der alte Kontinent weit entfernt. Immerhin hat die Schuldenkrise in der EU inzwischen Lernprozesse eingeleitet. Die Euro-Zone hat begonnen, sich zur Fiskal- und zur Politischen Union weiterzuentwickeln, und aus einem Noch-nicht-Euroland, Polen, stammt die bislang mutigste Antwort auf die seit langem verdrängte Frage nach der Finalität des Einigungsprozesses: Die EU müsse zu einer immer fester integrierten Föderation werden, erklärte Außenminister Radek Sikorski in einer Rede in Berlin am 28. November 2011.

Die EU ist derzeit noch ein Staatenverbund, in dem die Mitgliedstaaten die Herren der Verträge sind und die nationalen Parlamente die Organe bilden, die die Europa-Politik der Regierungen kontrollieren müssen und demokratisch legitimieren können. Die Mitgliedstaaten der EU sind postklassische Nationalstaaten, die einige ihrer Hoheitsrechte gemeinsam ausüben oder auf supranationale Einrichtungen übertragen haben.

Die Umwandlung des Staatenverbundes in eine Föderation wäre ein qualitativer Sprung: In einer bundesstaatsähnlichen Föderation wären nicht mehr die nationalen Parlamente, sondern das Europäische Parlament das demokratisch legitimierte Organ, vor dem sich die Exekutive in Gestalt der Europäischen Kommission zu verantworten hätte. Souverän wären nicht mehr die Mitgliedstaaten, sondern die Europäische Union.

Wenn Europa in der multipolaren Welt eine Rolle spielen will, muss es diesen Weg beschreiten. Global betrachtet sind auch die größten europäischen Staaten politische Zwerge. Nur durch enges Zusammenwirken können sie ihre Interessen wirksam vertreten. "Mehr Europa" läge aber auch im Gesamtinteresse des Westens.

Er wird heute nicht mehr durch eine geschlossene Ideologie nach Art des Marxismus-Leninismus herausgefordert, sondern durch den wirtschaftlichen Erfolg der neuen Großmacht China, das den Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas verkündet, dass es nicht der politischen Errungenschaften des Westens, also auch keiner Demokratie, bedürfe, um wirtschaftlich voranzukommen und in die Spitzengruppe der Nationen aufzusteigen.

Weder die USA noch Europa sind, für sich allein genommen, stark genug, um die Sache des Westens in der non- oder multipolaren Welt der Gegenwart erfolgreich vertreten zu können.

Die Sache des Westens ist das, was den Westen im Innersten zusammenhält: sein normatives Projekt, das in den frühen Menschenrechtserklärungen, obenan die Virginia Declaration of Rights von 1776 und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, seine klassische Gestalt angenommen hat. Es ist die ideelle Quintessenz der beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen und der Französischen Revolution: unveräußerliche Menschenrechte, Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung, Volkssouveränität und repräsentative Demokratie.

"Der Westen kann sein Modell niemandem aufzwingen"

Münchner Sicherheitskonferenz: Historiker Heinrich August Winkler

Historiker Heinrich August Winkler

(Foto: Stephan Rumpf)

Alle diese Errungenschaften sind das Ergebnis einer transatlantischen Kooperation - des Zusammenwirkens des alten europäischen und des neuen nordamerikanischen Westens auf der Grundlage der Aufklärung und einer Freiheitstradition, die durch Judentum und Christentum wie durch das Erbe der griechisch-römischen Antike geprägt ist.

Das normative Projekt des Westens hat sich in Europa anders entwickelt als in Amerika. Die Europäer haben gute Gründe, ihren "way of life" dem amerikanischen vorzuziehen. Aber ohne Amerika gäbe es das europäische Modell von westlicher Demokratie gar nicht.

Und wenn Europäer und Amerikaner sich streiten, sind es meist Dispute über die Auslegungen gemeinsamer Werte, beispielsweise über die Todesstrafe und den Sozialstaat. Global gesehen fällt das, was den alten und den neuen Westen verbindet, mehr ins Gewicht als das, was sie trennt. Es gibt keine internationale Partnerschaft, die materiell und immateriell so fest fundiert wäre wie die transatlantische. Sie bleibt für Europa wie für Amerika unentbehrlich.

Dem Machtverlust des transatlantischen Westens steht die ungebrochene Anziehungskraft der politischen Ideen gegenüber, die der Westen hervorgebracht hat. Die Ideen von 1776 und 1789 haben eine subversive Kraft entwickelt, die weltweit wirkt. Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie werden von arabischen Freiheitskämpfern, chinesischen Dissidenten und russischen Bürgerrechtlern eingefordert.

Der chinesische Friedensnobelpreisträger des Jahres 2010, Liu Xiaobo, ist zu elf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Aber die wesentlich von ihm verfasste "Charta 08", ein Manifest in der Tradition der atlantischen Revolutionen, hört nicht auf, die Freunde der Freiheit in China zu inspirieren. Sie setzen darauf, dass politische Stabilität und Fortschritt nicht durch zwangsverordnete Harmonie zu erreichen ist, sondern nur durch Bürgerrechte, Gewaltenteilung und politische Partizipation. Die Erfahrung spricht dafür, dass sie damit recht haben.

Der Westen kann sein Modell niemandem aufzwingen. Das Beste, was er für sein Projekt tun kann, ist, dass er sich selbst daran hält. Seine Geschichte ist voll von Verstößen gegen die Ideen, auf die er sich beruft - von Sklaverei über Kolonialismus und Rassismus bis hin zu den Menschenrechtsverletzungen in Abu Ghraib und Guantánamo. Nur ein selbstkritischer Westen kann glaubhaft für seine politische Lebensform werben, und er gäbe sich selbst auf, wenn er aufhören würde, auf der universalen Geltung der Menschenrechte zu bestehen.

Manche Realpolitiker diesseits und jenseits des Atlantiks verweisen diese Forderung in den Bereich eines weltfremden Idealismus, wenn sie dem Westen nicht gar vorwerfen, sich durch Orientierung an seinen Werten selbst zu schwächen. In Wirklichkeit gibt es nichts Kurzsichtigeres und Irrealeres als eine Realpolitik, die die gesellschaftliche Wirksamkeit von Freiheitsideen bestreitet und damit die westlichen Werte verleugnet. Auch das kann der Westen aus seiner Geschichte und nicht zuletzt aus dem Untergang des europäischen Kommunismus lernen.

Heinrich August Winkler ist Professor an der Humboldt-Universität Berlin und Autor des zweibändigen Standardwerks "Geschichte des Westens" (Beck-Verlag).

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