Münchner Sicherheitskonferenz:Neue Spielregeln für die Außenpolitik

Die Digitalisierung der Welt hat das Geschäft zwischen Staaten so öffentlich wie nie zuvor gemacht. Dennoch wenden sich die Menschen ab, die Politik gerät unter Druck. Gerade in Deutschland polarisiert die Sicherheitspolitik - obwohl eine sachliche Debatte dringend notwendig wäre.

Von Stefan Kornelius

Als Ewald-Heinrich von Kleist vor gut 50 Jahren die Wehrkundetagung ins Leben rief, wollte er in kleinem Kreis in absoluter Verschwiegenheit Gespräche führen. Es ging ihm um Offenheit, und dafür musste er Vertraulichkeit schaffen. Denn nur so konnte Vertrauen entstehen - 18 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine wertvolle Währung, für Deutschland gut zu gebrauchen.

Von Kleist wollte aber auch das ehrliche Wort. Wer ihn in seinen letzten Lebensjahren mit der gewaltigen Kulisse der Münchner Sicherheitskonferenz fremdeln sah, der ahnte, wie schwer er sich mit dem Laufsteg-Charakter der modernen Versammlung tat, und welche Bedeutung er der Vertraulichkeit zumaß.

Aber 50 Jahre sind eine lange Zeit, und so sehr Diplomatie und Sicherheitspolitik die Vertraulichkeit brauchen, so sehr haben sich die Spielregeln der Politik geändert. Die Welt hat sich ein paar Revolutionen weiter gedreht. Die mächtigste Dynamik löste dabei nicht etwa die Freiheitsbewegung in Osteuropa aus, sondern die Kommunikationstechnologie, das Bedürfnis nach Transparenz und Information. Die Welt, reduziert auf die Ziffern Null und Eins: Der Binärcode hat mehr Regime gestürzt und Kriege ausgelöst als wortreiche Depeschen.

Kommunikation bedroht autoritäre Systeme

Kommunikation steht heute im Mittelpunkt von Außen- und Sicherheitspolitik. Nichts bedroht autoritäre Strukturen und totalitäre Systeme stärker als das Bedürfnis der Bürger nach Austausch und geistiger Freiheit. Nichts löst mehr Protest aus in einer Demokratie als der Missbrauch von Freiheit und Geheimniskrämerei.

Eine Fortsetzungssaga über eine liberale muslimische Mittelstands-Ehe im ägyptischen TV schürt mehr Unmut auf Autokraten als jede Freitagspredigt. Eine Staffel "Homeland" im US-Kabel rüttelt stärker am Selbstbewusstsein der Nation, als jede State-of-the-Union-Rede des Präsidenten. Wikileaks und Edward Snowden haben der Glaubwürdigkeit Amerikas mehr geschadet als die Bush-Kriege.

Das Netz hat eine Welle der Aufklärung ausgelöst, die heute via Weibo durch China schwappt, die in Kairo über den Tahrir-Platz flutete oder in Moskau die weiß gekleidete Opposition durch die Straßen lenkt. Die Instant-Verfügbarkeit von Informationen, Bildern und Beweisen, erlaubt keine geheimen Drohnen-Kriege, sie entlarvt korrupte Parteikader mit Luxus-Uhren am Handgelenk und löst nach einem Giftgasangriff wie in Syrien binnen Stunden eine Empörung aus, die keine Neutralität mehr erlaubt.

Darf es deshalb keine Hinterzimmer mehr geben? Braucht es keine Emissäre und Botschaften mehr?

Falsch. Das Geschäft zwischen Staaten bleibt delikat, leise Misstöne können dröhnende Volkswut provozieren. Deswegen muss die Diplomatie auch eine Chance bekommen. Oft verlangt der Umgang zwischen Staaten nach mehr Zurückhaltung, als eine leicht entflammbare Öffentlichkeit aufbringen kann. Außenpolitik ist auch Wahrnehmung und Einschätzung, das angemessene Wort zur rechten Zeit.

Vertraulichkeit ist manchmal zwingend

Wer die gesammelten Botschafts-Depeschen der USA auf einen Server lädt, der benutzt Offenheit in zerstörerischer Absicht. Wer denkt was über wen? Wer schützt wen? So viel Transparenz verträgt nicht mal jede Ehe. Für den heiklen Tanz mit Iran über ein Atom-Abkommen ist Vertraulichkeit geradezu zwingend - ein falsches Wort, und die Hardliner in Teheran oder im US-Kongress würden den zarten Spross kaputt treten.

Dennoch: Ein Klemens Fürst von Metternich hätte heute keine Chance mehr. Der Mann, der die Staatenwelt im frühen 19. Jahrhundert ausbalancierte, verglich sich mit einem Schauspieler auf einer Bühne. Er brauchte eine klare Verteilung von Rollen für das Geschäft zwischen Staaten. Nur wenn es Ordnung gibt, da war sich Metternich sicher, kann Freiheit gedeihen. Seine Ordnung stellte er mithilfe von Geheimdiplomatie her - heute unvorstellbar. Die aufgeklärte Welt lässt sich nicht mehr in Geheimbünden zähmen - Metternichs Ordnung würde unter der Wucht der Kommunikation zusammenbrechen.

Wie also kann man die neue Freiheit nutzen für die Politik? Wie betreibt man im zweiten Jahrzehnt der neuen digitalen Zeitrechnung eine Konferenz über Außenpolitik, die einst im Hinterzimmer begonnen hat und bei der heute moderne Mini-Metternichs die Balance suchen zwischen Twitter und Vertraulichem?

Was bringt eine Sicherheitskonferenz?

Ein echtes Problem, vielleicht sogar das Problem dieses sicherheitspolitischen Zeitalters überhaupt. Beweist Snowden nicht gerade, dass Geheimdienste ein Anachronismus sind im Zeitalter freiwilliger Selbstentblößung auf Facebook? Selbst die NSA kann nichts geheim halten. Und: Wo bleibt der Wert von Diplomatie, wenn sich eine EU monatelang vom ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch vertraulich bauchpinseln lässt, ehe jeder vermeintliche Fortschritt im schwarzen Rauch des Maidan verfliegt? Was also bringt noch eine Sicherheitskonferenz?

Zumindest kann niemand behaupten, dass die Versammlung im Herzen Münchens nach den Regeln einer Geheimloge funktioniert, wie die Freunde einer ordentlichen Verschwörung immer wieder raunen. Vor Jahrzehnten schon übertrug der Bayerische Rundfunk jedes Wort, später übernahm Phoenix, heute wird alles getwittert, gebloggt und gestreamt. Geheimverträge werden jedenfalls nicht geschlossen. München ist transparent geworden. Inzwischen sind mehr Berichterstatter akkreditiert als es Teilnehmer der Sicherheitskonferenz gibt. Die Grenze zwischen drinnen im Saal und draußen ist längst aufgelöst. Selbst im engsten Kreis der Teilnehmer finden sich heute so viele Journalisten wie Bundestagsabgeordnete. So viel Kommunikation war nie.

Außenpolitik hat ein Vermittlungsproblem

Dabei ist der nackte Nachrichtenwert der Konferenz gesunken. Sensationen sind meist nicht zu erwarten. Auch das verdankt die Veranstaltung dem digitalen Zeitalter. In den Jahren ante retem (vor dem Netz) sorgte die Sicherheitskonferenz für eine Verdichtung von Themen und Akteuren, der sich kein Korrespondent entziehen konnte. Heute schafft das Internet eine Dauerkompression. Vielleicht liefert München den einen oder anderen Zungenschlag für Connaisseurs. Aber big news - das ist selten geworden.

Es gab Ausnahmen: Wladimir Putins Auftritt 2007 löst heute noch einen Schauder aus. Wie einst Chruschtschow mit dem Schuh aufs UN-Pult hieb, so polterte der russische Präsident gegen die Dominanz der USA in der Weltordnung. Ein Hauch von Kalter Krieg wehte durch den Saal. Oder Joschka Fischer gegen Donald Rumsfeld wenige Wochen vor Beginn des Irak-Krieges 2003: "Mr. Secretary, ich bin nicht überzeugt."

Bei aller Transparenz: Außenpolitik hat gleichwohl ein gewaltiges Vermittlungsproblem. Vielleicht ist es der Sprachcode, der auch das Münchener Klassentreffen als geschlossene Veranstaltung erscheinen lässt. Die Akteure im Staatengeschäft nutzen eine Formel-Sprache, die ohne Decodierung nur in Foreign Affairs abgedruckt würde. Für viele reduziert sich München so auf die An- und Abfahrt schwerer Limousinen und Scharfschützen auf dem Dach. So viele Global-Promis kommen höchstens noch in Davos zusammen - so etwas gibt es nicht oft auf der Welt. Außenpolitik als Celebrity-Event: Auch das hätte sich von Kleist nicht träumen lassen.

Sicherheitspolitik? Ein Nischenprodukt

Allerdings befördert gerade die Abriegelung für die Zuschauer jenseits des Polizei-Cordons den Eindruck einer geschlossenen Gesellschaft. Da tröstet auch nicht der Livestream oder der Hinweis, dass selbst die UN in New York keinen freien Eintritt gewähren. So blühen die wildesten Vorstellungen über die - wahlweise - Nato-Konferenz, Kriegstreiber-Konferenz, Rüstungs-Börse, Veranstaltung zur Unterwerfung unter das imperialistische US-System.

Die Sicherheitskonferenz polarisiert, weil das Sujet polarisiert - gerade in Deutschland, wo es aus vielen guten historischen Gründen und vielen schlechten politischen Motiven nach wie vor nicht selbstverständlich ist, dass ein Staat Interessen haben kann, und ja: sie auch manchmal durchsetzen muss. Sicherheitspolitik gehört in Deutschland zu den Nischenprodukten auf dem Basar der Öffentlichkeit - schwer zu finden, schwer zu verkaufen.

Die politische Klasse hat sich weitgehend auf einen stillen Konsens geeinigt: Das Land pflegt seine Bündnisse, gibt sich in militärischen Angelegenheiten defensiv, redet besser nicht über die schwierigen Alternativen und hofft, dass der Kelch vorübergehen möge, wenn die Welt wie in Libyen oder Syrien um ihre Verantwortung ringt. Ansonsten trägt man sein Scherflein beim Rüstungsexport bei, weil es eine Industrie gibt und die anderen es auch tun.

Deutschland spürt eine neue Erwartung

Wie im Brennglas zeigt die Münchner Konferenz, dass diese Schönwetterbehandlung von Sicherheitspolitik nicht ausreicht, ja: dass es sogar gefährlich werden kann, wenn der gesellschaftliche Disput in Fragen von Krieg und Frieden auf wackeligem Boden geführt wird.

Außen- und Sicherheitspolitik dient als Werkzeug, um Konflikte zu justieren, neue Bedrohungen zu erfassen, alte Freundschaften zu hinterfragen. Im Kern geht es um Kommunikation, um Vertrauen durch Vertrautheit - viel hat sich also nicht geändert seit dem ersten Treffen.

Und doch allerhand: Deutschland spürt eine neue Erwartung. Das Land muss sich erklären, was es mit seiner Stärke in der Mitte Europas anzufangen gedenke. Oder ob es gar seine Vergangenheit instrumentalisiert, um Konflikten auszuweichen. Der Bundespräsident hat das so formuliert.

Überhaupt scheint Joachim Gauck eine Kluft in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu entdecken. Die Welt sieht für Deutschland diese neue Bedeutung, aber das Land verharrt zur Irritation seiner Freunde in seiner Zurückhaltung. Gauck zitierte die unverfängliche Hannah Arendt, die nur fünf Jahre nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes und dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu denken gab: "Es sieht so aus, als ob sich die Deutschen nun, nachdem man ihnen die Weltherrschaft verwehrt hat, in die Ohnmacht verliebt hätten."

Sprachlosigkeit über die eigene Rolle

Besser als Ohnmacht würde heute vielleicht das Wort Sprachlosigkeit taugen, denn nichts charakterisiert das Verhältnis zwischen den Lagern besser, den Akteuren auf der Konferenz und ihren Kritikern. Sprachlosigkeit entsteht, wenn nicht gesprochen wird. Und es wurde zu wenig gesprochen in Deutschland über die Aufgaben des bevölkerungsreichsten Landes in Europa und der viertgrößten Volkswirtschaft der Erde. Israel und die Palästinenser? Amerika und die NSA? Syrien und Giftgas? Afghanistan? Keine westliche Gesellschaft leistet sich so viel Konflikte in ihrem Blick auf die Welt wie die deutsche.

So entsteht ein handfester Konflikt zwischen denen, die Außen- und Sicherheitspolitik auf der Bühne (und manchmal auch im Hinterzimmer) betreiben, und jenen vor der Absperrung, die glauben, die Welt werde besser, wenn man sich nur raushalte. Weil diese Auseinandersetzung in Deutschland also ganz schnell mit der moralischen Keule geführt wird, muss die eine Seite Srebrenica mit Auschwitz vergleichen und die andere Seite Rüstungsexporteure als Kaufleute des Todes brandmarken. Über Außenpolitik kann man also lange streiten, aber moralische Nullsummenspiele gibt es selten.

So ist aus Ewald-Heinrich von Kleists Hinterzimmer-Runde ein Spiegel der Zustände der Republik geworden. Was kann einer Konferenz besseres geschehen? Es lohnt also hinzuschauen: Es geht um Kommunikation. Und um Vertrauen. Wie schon beim ersten Treffen.

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