Münchner Neueste Nachrichten vom 30. Juni 1914:Nur ein Journalist ahnt Schreckliches

Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 30. Juni 1914

Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 30. Juni 1914

(Foto: Oliver Das Gupta)

Zwei Tage nach dem Attentat auf Österreichs Thronfolger 1914 liefert das SZ-Vorgängerblatt verblüffende Details - doch was das Ereignis nach sich ziehen wird, ahnt nur einer.

Von Oliver Das Gupta

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Was dieser Mahner wohl für ein Mensch gewesen ist? Russischer Journalist war er auf jeden Fall und schrieb im Petersburger Kurier am Tag nach den Schüssen auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand folgenden Satz: "Unglücklicherweise ist der Fürst von serbischer Hand gefallen, die in sich den Funken trug, an dem sich der europäische Brand entzünden sollte."

So wird er zitiert in der Presseschau der Münchner Neuesten Nachrichten vor genau 100 Jahren. Die dunkle Ahnung, dass die Mordtat von Sarajevo (damals durchgehend Serajewo genannt) schreckliche Folgen für den ganzen Kontinent haben könnte, ist die einzige derartige Äußerung in der letzten Juni-Ausgabe. Ansonsten schien niemand den drohenden Weltkrieg gewittert zu haben.

"Bald nachher gab er seinen Geist auf"

Das Attentat dominiert das Nachrichtengeschehen nach wie vor. Neben kolportierter Bestürzung und Beileidsäußerungen - die königlich bayerische Staatsregierung verdammt die "fluchwürdige Tat" - liefert die Zeitung Einzelheiten über die Tragödie in der bosnischen Hauptstadt.

  • Der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand habe, nachdem seine Frau Sophie von Hohenberg von einer ersten Kugel in den Bauch getroffen worden sei, sich im Auto erhoben - und sei dann getroffen zurückgesunken. Wäre der Erzherzog sitzengeblieben, hätte ihn die weitere Kugel demnach nicht tödlich in den Hals getroffen.
  • Ehefrau Sophie soll sich danach ebenfalls erhoben und mit "mit zitternden Fingern nach dem Halse ihres Mannes" gegriffen haben, aus dem das Blut "unaufhörlich hervorsprudelte". Ihre letzten Worte: "Oh Gott, oh Gott". Beide hätten das Bewusstsein verloren.
  • Der tödlich verletzte Erzherzog habe, als man ihn in den Gouverneurssitz trug, noch mehrmals die Augen aufgeschlagen. "Seine Arme griffen mehrfach wie suchend durch die Luft", heißt es in dem telefonisch durchgegebenen Bericht: "Bald nachher gab er seinen Geist auf."
  • Der Polizeikommissar, der für die Sicherheit in Sarajevo während des Besuchs von Franz Ferdinand verantwortlich war, starb eine Stunde nach dem Erzherzog: "Er schoss sich aus seinem Dienstrevolver eine Kugel in den Mund und war auf der Stelle tot."
  • Zu den Verschwörern erklärt die Zeitung, dass die Festgenommenen "Tag und Nacht" verhört werden (man will sich nicht ausmalen, was mit ihnen angestellt wurde).
  • Der Name des Schützen Gavrilo Princip werde "Printschip" ausgesprochen, klärt die Münchner Redaktion auf; außerdem habe dessen Komplize Cabrinovic gestanden, dass das Attentat "von Belgrad aus bestellt worden ist". Diese Bezichtigung der serbischen Führung scheint den Münchner Blattmachern dann doch etwas heikel zu sein. Sie stellen zu den Angaben den Satz: "Die Nachricht bedarf noch der Bestätigung."
  • Nach der Tat gibt es ethnische Spannungen in Sarajevo: "Die antiserbischen Demonstrationen in Serajewo nehmen stellenweise einen äußerst bedrohlichen Charakter an", heißt es. Serben hätten sich bewaffnet und in Lokalen verbarrikadiert. Über der Stadt ist der "Belagerungszustand" verhängt, in Wohnungen werden "aufreizende" Schriften gefunden, es gibt Verhaftungen serbischer Studenten, auch "Frauen und Mädchen" seien in Gewahrsam. Der Bürgermeister von Sarajevo bezichtigt Serbien, hinter dem Mordkomplott zu stecken.

Es sind Details, die in später verfassten historischen Darstellungen oft nicht enthalten sind. Vielleicht, weil sie sich im Nachhinein als falsch herausgestellt haben. Vielleicht auch, weil sie nicht so wichtig erschienen angesichts des Brandes, der fünf Wochen später beginnen und in dem das alte Europa untergehen sollte. Ein Brand, von dem der eingangs erwähnte Journalist im fernen Russland schreibt, aber der für die meisten Leser der Münchner Neuesten Nachrichten am 30. Juni vor 100 Jahren undenkbar ist.

Der Kaiser will mit der Queen ihren Geburtstag feiern

Denn im Rest der Zeitung klingen die Nachrichten nach einer Zukunft ohne Krieg, sie klingen nach Alltag.

Da ist die Rede davon, dass - angesichts der erwarteten "vollen Ernte" - die Zuckerpreise herabgesetzt worden sind. Ein "feierliches Tedeum" plane die griechisch-orthodoxe Gemeinde am 2. Juli anlässlich des anstehenden Geburtstages der bayerischen Königin Maria Theresia - "ebenso findet in der Synagoge Gottesdienst statt". Ein tragischer Arbeitsunfall in München-Pasing sorgt für eine Verurteilung eines Werkmeisters. Sein Mitarbeiter, ein junger Schlosser namens Joseph Hillenbrand, habe eine glühende Eisenklammer in einen Bottich getaucht, der seiner Meinung nach mit Wasser gefüllt ist und nicht - wie tatsächlich - mit Benzin. Bei der Verpuffung erlitt Hillenbrand schwere Brandverletzungen, an denen er später starb. Sein Vorgesetzter wurde - nun klingt es klischeehaft teutonisch - "wegen einer Übertretung der Vorschriften über die Aufbewahrung explosions- und feuergefährlicher Stoffe zu 30 Mark Geldstrafe eventuell 10 Tagen Haft verurteilt" (wobei offen bleibt, was in diesem Fall "eventuell" zu bedeuten hat).

Aus der fernen, fremden Welt bietet die SZ-Vorgängerin einen hübschen Beitrag. Ein Münchner mit den Initialen "H.R." schreibt über seine Eindrücke aus Mexiko - und wie ihm ein Kutscher neben der vereinbarten zwei Dollar noch zusätzliche fünf Dollar abknöpfen wollte. Nach einer Drohung, dass bei Nichtzahlung ihm "der Lasso um den Hals fliegen würde", gab ihm der Bayer schließlich zehn Dollar.

In den Münchner Neuesten Nachrichten ist der Anzeigenteil beachtlich umfangreich. Dort findet sich zwischen der Reklame für "Dr. Buslebs konzentrierte Pflanzen-Nahrung" und für "Veroneser Bohnen" eine frühe Second-Hand-Werbung. Ein Händler namens Spielmann bietet in seinem Laden am Gärtnerplatz "Getragene noch moderne und sehr gut erhaltene Herren-Garderoben" an.

Der Lokalteil informiert die Leser darüber, wie sie im Englischen Garten und im Hofgarten beschallt werden - an Orten, wo damals wie heute Bier aus Maßkrügen die Kehlen kühlt.

"Bei günstiger Witterung" sollen dort im Juli 1914 Militärkapellen musizieren, heißt es. Ein Pionier-Regiment macht den Anfang, dann folgen andere Einheiten wie Infanterie und Feldartillerie. Für den 25. Juli ist das letzte Konzert angekündigt, dann spielt die Kapelle des 1. Schwere-Reiter-Regiments. Drei Tage später wird die Armee von Österreich-Ungarn den Weltkrieg mit Salven auf Serbien eröffnen.

Keine Party mit "Willi"

Wie wenig einen knappen Monat vorher auf das große Gemetzel hindeutet, zeigen Meldungen über anstehende Reisen deutscher Royals. Der deutsche Kronprinz, heißt es mit Verweis auf englische Medien, plane für Anfang August einen Besuch in Großbritannien. Und zwar gemeinsam mit "einer deutschen Flotte mit vier Linienschiffen und einer Anzahl großer Kreuzer" in Portsmouth. Auch Kaiser Wilhelm II. will im Hochsommer nach England fahren - unter anderem wolle er am 1. September in Sandringham mit der britischen Königin deren Geburtstag feiern.

Zu der Party der damaligen Queen mit dem lieben Verwandten "Willi" sollte es nicht kommen. Nach dem deutschen Überfall auf das neutrale Belgien wird Großbritannien am 4. August Wilhelms Reich den Krieg erklären.

Weitere SZ-Texte zum Ersten Weltkrieg:

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: