Münchner Neueste Nachrichten vom 12. Juli 1914:Tragisches Ende eines Diplomaten

Kaiser Wihelm II. auf seiner Yacht "Hohenzollern", 1913

Der deutsche Kaiser Wihelm II. (in weißer Uniform) auf seiner Yacht Hohenzollern 1913 vor Antritt seiner jährlichen Nordlandreise.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Steht Krieg bevor? In der Zeitung findet sich nur eine Spur von Krise. Die deutsche Reichsführung urlaubt, US-Präsident Wilson setzt auf einen Guerilla-Chef und in Belgrad stirbt ein russischer Gegner Österreichs - in der österreichischen Botschaft.

Von Oliver Das Gupta

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten im Sommer 1914 über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Wo ist die Krise hin? Zwei Wochen nach den tödlichen Schüssen auf Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand scheint sich der große Wirbel zu legen. Die Münchner Neuesten Nachrichten melden kurz, dass Russland, Großbritannien und Frankreich der serbischen Führung "vertraulich" geraten hätten, alles zu tun, um "die Stimmung in Österreich-Ungarn zu beruhigen". Das klingt nicht danach, als würde drei Wochen später die Welt brennen, weil auf dem Balkan eine Zündschnur glimmt.

Allerdings gibt es Trauer in Belgrad über das Ableben eines Spitzendiplomaten unter skurril anmutenden Umständen, die größeres Aufsehen erregen: Nikolaus Hartwig, der russische Botschafter in Serbiens Hauptstadt, besucht seinen österreichischen Amtskollegen Baron Wladimir Giesl von Gieslingen. Er möchte hier üblen Gerüchten entgegentreten.

Es sei absolut unwahr, dass er während des Trauergottesdienstes der österreichischen Gesandtschaft für den toten Erzherzog ein Dinner gegeben habe, erklärt Hartwig. Richtig sei vielmehr, dass er der Messe beigewohnt habe, und zwar in voller Uniform. Dabei habe er das Band des Großkreuzes des österreichischen Franz-Joseph-Ordens angehabt, den er "stets mit besonderem Stolze trage", habe der Russe dem Baron Giesl versichert.

Die Richtigstellung ist dem Vertreter des Zarenreiches mit dem deutsch klingenden Namen besonders wichtig, weil er als harter Hund gilt: Er ist ein Freund panslavischer Ideen und hatte in den Vorjahren geholfen, den Balkanbund zu schmieden. Diese Allianz aus kleineren Ländern der Region führt blutig Krieg gegen das schwächelnde Osmanische Reich (hier mehr dazu). Ziel des Botschafters ist eine Ausdehnung der russischen Einflusssphäre - und eine Zurückdrängung Österreich-Ungarns. Hartwig, der auch mit dem serbischen Regierungschef befreundet ist, gilt nach dem Doppelmord von Sarajevo als besonders verdächtig.

Nachdem der zaristische Botschafter nun formell für Klarheit gesorgt hatte - der österreichische Gesandte war "in höchstem Maße" zufrieden - plaudern die Diplomaten noch eine Weile. Plötzlich greift sich der Russe an die Brust, kippt vom Sofa und ist tot. Die Frau des Botschafters entzündet eine Kerze, so wie es in der Orthodoxie vorgeschrieben ist, und legt ein kleines Bildnis der Muttergottes auf die Brust des Toten, schreibt die SZ-Vorgängerzeitung.

Münchner Neueste Nachrichten

Titelseite der Münchner Neueste Nachrichten vom 12. Juli 1914

(Foto: Daniel Hofer)

Der pietätvolle Umgang kann nicht verhindern, dass ein neues Gerücht entsteht: Diesmal heißt es auf serbischer Seite, die Österreicher hätten den Botschafter vergiftet. Dass ein Gegenspieler der Österreicher ausgerechnet in der österreichischen Gesandtschaft an einem Herzinfarkt stirbt, ist vielen Zeitgenossen damals dann doch eine Spur zu bizarr.

Botschafter Giesl von Gieslingen wird wenige Tage später eine besondere (und ebenso tragische) Rolle zukommen. Er überbringt jenes schriftliche Ultimatum an die serbische Regierung, das den Ersten Weltkrieg einläutet. Die Vorbereitungen zu diesem Schritt laufen in Wien in jenen Tagen. Auch die deutsche Reichsführung weiß von diesem Schritt und heißt ihn gut - denn auch sie will nachweisbar Krieg, vor allem gegen Frankreich und Russland (hier mehr dazu).

Nach Außen dringt nichts von alledem am 12. Juli. Die deutsche Staatsspitze scheint fast komplett Urlaub zu machen. Der Kaiser ist auf auf seiner Nordlandfahrt, der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes (so hieß der Außenminister damals) verbringt seine Flitterwochen in der Schweiz, der Generalstabschef weilt auf Kur und auch andere führende Miltärs melden sich ab. All das ist eine absichtliche Täuschung, um die potentiellen Kriegsgegner einzulullen, wie 100 Jahre später belegbar ist.

Ansonsten bieten die 16 Seiten der Sonntagsaugabe vom 12. Juli 1914 einen umfassend wirkenden Nachrichtenüberblick: Die "Fusion der oberschlesischen Montanindustrie" wird ebenso behandelt wie die Misshandlung von Schiffsjungen und die in Frankreich diskutierte Aufrüstung - letzteres eine Reaktion auf die "gewaltige Entwicklung", die "Deutschland seiner offensiven Macht" gebe.

In München ist die Gründung einer Volksbühne in vollem Gange. Dazu gibt es in einem Bierkeller eine Veranstaltung mit allerlei Ansprachen und Erklärungen von Kunstbeflissenen und auch Politikern. Kunst solle die "Zusammenfassung aller Menschen erstreben", erklärt der "Schriftsteller Kurt Eisner" weihevoll. Fünf Jahre später wird Eisner die Monarchie in Bayern beenden, indem er den Volksstaat Bayern ausruft, dessen erster Ministerpräsident er wird.

Dauerflugweltrekord bei Berlin

Bayern als Republik? Das ist im Sommer 1914 undenkbar, vielmehr erfreut man sich an polierten Pickelhauben, an einem bärtigen bayerischen König - und deutschen Höchstleitungen wie jene von Reinhold Böhm.

Der Pilot habe, so heißt es in einem Telegramm aus Berlin, einen neuen Dauerflugweltrekord geschafft. Im Albatros-Doppeldecker sei er 24 Stunden über Johannisthal gekreist, vermerken die Münchner Neuesten Nachrichten und sind sich sicher: Dieser Rekord "dürfte so leicht nicht überboten" werden.

Die Titelseite aber beherrschen andere Themen, es handelt sich offenkundig um einen amerikanischen Schwerpunkt. Eine weitere Folge des Romans "Der Amerikaner" ist zu lesen. Darüber ein Text, der feststellt: "Süd-Amerika erwacht, wirtschaftlich und politisch".

Das Blatt bietet außerdem ein Porträt des mexikanischen Guerilla-Führers Pancho Villa, der damals im mexikanischen Bürgerkrieg mitmischt. Der aktuelle Bezug: US-Präsident Woodrow Wilson würde sich von der bedrängten mexikanischen Regierung (die übrigens auch durch einen blutigen Putsch an die Macht gelangt war) abwenden. Die US-Regierung Wilsons würde künftig auf Villa setzen, heißt es, das "Stadtdepartment" (sic!) würde eine entsprechende "Charakteristik" vorbereiten, die auf den schnauzbärtigen Kriegsherren ein sanfteres Licht werfen solle.

Doch das gibt Stunk in Washington D.C.: Im Kongress wird Widerstand laut, ein Senator habe Villa als blutrünstigen Banditen beschrieben, der vor Folter, Mord und Vergewaltigung nicht zurückschreckt. Der Text der Münchner Neuesten Nachrichten macht sich diese Haltung zu eigen, die Sprache ist polemisch, die Überschrift "Ein edler Held" trieft vor Ironie.

Tatsächlich sollte jener Pancho Villa mit seinen berittenen Kämpfern nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Stadt im Süden der USA überfallen und fortan als erbitterter Feind der Vereinigten Staaten gelten. Amerikanische Truppen rückten daraufhin in den Norden Mexikos ein.

Die von Villa ausgelöste Entwicklung sollte 1917 den Chef des deutschen Außenamtes Arthur Zimmermann zu einer verhängnisvollen Geheim-Depesche verleiten, in dem Berlin die Mexikaner für einen Krieg gegen die USA gewinnen wollte (hier mehr dazu).

Pech für Berlin: Das heikle Schreiben sollte publik werden und schließlich Washington zum Kriegeintritt gegen Deutschland bewegen - die Entscheidung im Ersten Weltkrieg.

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