Münchner Neueste Nachrichten vom 11. Juli 1914:Mit Napoleon gegen Adelsdünkel

Überführung der Leichen von Franz Ferdinand und Sophie zum Bahnhof, 1914

Begleitet von Soldaten und Hofbediensteten: Trauerkutsche mit den Leichen Franz Ferdinands und seiner Frau Sophie

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Kaiser Wilhelm spaziert durch Norwegen. Die Ermittler in Sajarevo halten die Thronfolger-Ermordung für aufgeklärt. Und das Schmalspur-Begräbnis Franz Ferdinands kontert die SZ-Vorgängerzeitung mit dem Statement eines Ex-Revolutionärs. Was heute vor 100 Jahren zu lesen war.

Von Barbara Galaktionow

Schickes Auftreten und schöne Titel können äußerst hilfreich sein, um das gesellschaftliche Fortkommen zu befördern. Das gilt heutzutage, siehe das Beispiel von Karl-Theodor zu Guttenberg, der dank geradezu Beau-hafter Erscheinung und Adelstitel zumindest zeitweilig als zukünftiger Bundeskanzler gehandelt wurde, ganz ohne sich durch besondere Verdienste ausgezeichnet zu haben.

Und es galt umso mehr zur Zeit der großen Monarchien vor dem Ersten Weltkrieg. Das richtige Auftreten - das mochte so manchem in der stark hierarchischen Gesellschaft zum Aufstieg verhelfen. Sich adäquat zu kleiden, war, glaubt man den Anzeigen in den Münchner Neuesten Nachrichten vom 11. Juli 1914, auch für Menschen mit kleinem Geldbeutel möglich: "Man merkt's gleich beim ersten Einkauf, dass man sich in unserer Abteilung für gebrauchte Herrschaftskleider für wenig Geld gut kleiden kann", verspricht unter anderem die Firma N. Kurzmantel & Co.

Verzwickt war es aber auch an der Spitze der monarchischen Herrschaftshäuser. Welche Gräben sich durch die Adelsstufen zogen, zeigte zu dieser Zeit die Aufregung um die Beisetzung des ermordeten österreichischen Thronfolgers und seiner Ehefrau. Der Habsburger-Spross Franz Ferdinand hatte seine Liebesheirat mit der als nicht standesgemäß erachteten böhmischen Gräfin gegen alle Widerstände und vor allem gegen den expliziten Einspruch von Kaiser Franz Joseph I. durchgesetzt. Selbst im Tode wurde er dafür bestraft - mit einer Beerdigung "dritter Klasse", bei der der Kaiser sich nicht blicken ließ.

Die Münchner Neuesten Nachrichten nehmen die Empörung über die vergleichsweise armselige Beisetzung zum Anlass, an einen anderen prominenten Fall einer nicht standesgemäßen Ehe im Hause Habsburg zu erinnern: der Heirat des zwar machtpolitisch äußerst relevanten, aber aus dynastischer Sicht völlig indiskutablen Napoleon Bonaparte mit Kaisertochter Marie-Louise von Österreich im Jahr 1810.

Die Zeitung zitiert aus autobiografischen Aufzeichnungen Napoleons. Der österreichische Kaiser habe ihm eine "Kiste Papiere, die mich zum Abkömmling der Herzoge von Florenz machten" zum Durcharbeiten zugesendet, mokiert sich der Ex-Revolutionär und Kaiser Frankreichs da. Er habe das gegenüber dem österreichischem Grafen Klemens von Metternich "rundweg" abgelehnt, weil er der Ansicht sei, "zum mindesten ebensoviel wert zu sein" wie der österreichische Kaiser. "Metternich hatte viel Spaß an meinen Worten", behauptet Napoleon noch.

Abgesehen von diesem Ausflug in die Historie, dessen wohl dezent aufrührerische Deutung das Münchner Blatt seinen Lesern überließ, beschäftigt sich das Morgenblatt an diesem Samstag im Sommer 1914 vor allem mit einem auch heute noch heiß diskutierten Thema: Steuern.

Frankreich hat sich dem Korrespondentenbericht aus Paris zufolge endlich dazu entschlossen, die Einkommensteuer einzuführen. "Besonders wichtig ist dabei die Annahme des so heiß umstrittenen Prinzips der staatlich kontrollierbaren Steuererklärung", heißt es. In Berlin überlegt man derweil, eine ganz neue Abgabe einzuführen, die sogenannte "Quittungsstempel-Steuer", die, wie Befürworter meinen, nicht groß ins Gewicht falle. Gegner halten die anvisierte Steuer auf Rechnungen hingegen für eine "große Belastung der Konsumenten, auf die sie doch abgewälzt werde".

Serbiens "blutrünstiger Geist"

Der Deutsche Kaiser Wilhelm II. hält sich zu dieser Zeit nicht in Berlin auf, sondern reist immer noch durch Skandinavien. Eine kleine Meldung aus dem norwegischen Bergen klingt ganz nach behäbigem Alltagsgeschäft des Monarchen: "Der Kaiser begab sich nach einem kurzen Landspaziergang an Bord der Rostock und nahm die Mittagstafel mit mehreren Herren der Umgebung beim deutschen Konsul Mohr ein. Es herrscht warmer Sonnenschein; an Bord ist alles wohl."

Erst in der Abendausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten spielt die "Untat in Serajewo" wieder eine zentrale Rolle. Die Ermittlungen zum Fall seien zwar nicht ganz abgeschlossen, heißt es. Doch sei schon jetzt klar, dass die Kreise im Königreich Serbien, die den "Herd der großserbischen Propaganda" bildeten, eine geistige Mitschuld treffe. Sie hätten mit ihrer großserbischen Hetze den Boden vorbereitet, auf dem die "Saat des Mordes aufgeht". "Als Frucht dieser Agitation ergibt sich das Verbrechen gewissermaßen von selbst", heißt es.

Aus der Lage in Serbien zieht die Zeitung weitreichende Folgen. Die großserbischen Bestrebungen bilden demnach nicht nur für die Sicherheit in Bosnien und Herzegowina eine Gefahr, sondern sogar für den "europäischen Frieden". Der in Serbien "gepflegte, blutrünstige Geist der Verschwörung ist ein Feind, der zu allem fähig ist", behauptet die Zeitung.

Der österreichischen Seite wird demgegenüber maßvolles und deeskalierendes Handeln attestiert: Es sei nicht daran zu zweifeln, dass die "Wiener Regierung in friedfertigem Geiste die rechtlich und sittlich begründeten Forderungen stellen wird, die sie zur Sicherung der inneren Ruhe des Reiches und zur Wahrung ihres Ansehens stellen muß", schreibt das Blatt. Die hier geäußerte Erwartung könnte in keinem größeren Kontrast dazu stehen, wie Österreich-Ungarn nur wenige Tage später tatsächlich verfuhr: Es stellte an Serbien das fatale Ultimatum, das den letzten Anstoß für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gab.

Die Führungen in Berlin und Wien waren sich schon zu dieser Zeit der Brisanz dieser "diplomatischen Note" bewusst. Denn während sie nach außen hin ihre mäßigende Botschaft verbreiteten, die auch von den Münchner Neuesten Nachrichten so getreulich wiedergegeben wurde, berieten intern die Diplomaten über den besten Zeitpunkt für die Übergabe des Dokuments, um eine schnelle gemeinsame Reaktion ihrer Gegner Frankreich und Russland zu verhindern. Heinrich von Tschirschky, deutscher Botschafter in Wien, schreibt dazu ein auf den 11. Juli datiertes und als geheim klassifiziertes Privatschreiben. Er sei von österreichischer Seite darum gebeten worden, nicht zu telegrafieren, damit "absolute Geheimhaltung verbürgt" sei, heißt es darin.

Die Zeitung verbreitete an diesem Tag noch ein weiteres grobes Fehlurteil zur Thronfolger-Ermordung. Allerdings sollte hier erst die weitere Geschichte zeigen, wie sehr nicht nur die Zeitung, sondern auch die Verantwortlichen in Sarajevo und Wien irrten. Die Untersuchung des Attentats nähere sich nun doch dem Ende, heißt es hier und sie habe "einen vollen Erfolg ergeben". Alle Fäden der Verschwörung seien bloßgelegt. Doch wie weit die Verschwörung tatsächlich in höchste Kreise in Belgrad hinaufreichte, das wusste zu diesem Zeitpunkt nicht einmal die Führung in Wien.

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