Münchner Neueste Nachrichten vom 21. Juli 1914:Gereizte kriegerische Leidenschaften

Feldgraue Uniformen deutscher Soldaten, 1910

Soldaten eines Lehrbataillons in den 1910 eingeführten feldgrauen Uniformen, die die bis dahin farbigen Uniformen der deutschen Armee ablösten.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Eine Woche vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs: In Hamburg prügeln sich Polizisten und junge Männer. In Sankt Petersburg beteuern Zar und Frankreichs Präsident ihren Friedenswillen - und der SZ-Vorgängerin zufolge dräut Europa gewaltiges Unheil.

Von Oliver Das Gupta

"Vor einer neuen Krise" heißt der Text rechts oben auf der Titelseite der Münchner Neusten Nachrichten am 21. Juli 1914, der keine Autorenzeile trägt. Es ist eine meinungsstarke Analyse dessen, was sich in Europas Staatenwelt derzeit zusammenbraut - ein Leitartikel mit Weitsicht. Zumindest für eine Woche. Der Journalist warnt vor einem Ereignis, das kurze Zeit später eintreffen wird: der Beginn eines gewaltigen Konfliktes, der Erste Weltkrieg.

Der Weg in den Ersten Weltkrieg

Die SZ dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten im Sommer 1914 über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Am 28. Juni war der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand (hier mehr dazu) und seine Frau in Sarajevo von einem serbischen Nationalisten (hier mehr dazu) erschossen worden. Im Hintergrund hatten danach in Wien (und in Berlin) die Kriegstreiber die Weichen für einen Krieg gestellt (hier mehr dazu).

Der Öffentlichkeit und auch der Presse bleiben diese Vorbereitungen verborgen, an eine spätere kriegerischen Reaktion auf den Doppelmord von Sarajevo glaubt damals niemand (hier eine Übersicht der Julikrise 1914).

Deshalb schreibt der Autor der Münchner Neuesten Nachrichten heute vor 100 Jahren auch von einer "herannahenden neuen Krise" zwischen Wien und Belgrad. Denn die Töne aus der österreichischen Hauptstadt sind inzwischen schroff. Eine diplomatische Note werde vorbereitet, so viel weiß man, doch den Inhalt kennt man nicht.

Der Autor meint, dass die Donau-Monarchie von Serbien die Bekämpfung antiösterreichischer Propaganda fordert sowie ein Vorgehen gegen die Hintermänner des Sarajevo-Attentats. Forderungen, die aber nicht "die Unabhängigkeit Serbiens, noch seine nationale Würde bedrohen" - eine Fehleinschätzung, denn das Gegenteil sollte der Fall sein. Österreichs formuliert das Ultimatum so, dass Serbien es nicht ganz erfüllen kann.

Der namenlose Münchner Journalist erwähnt dann den damals gerade stattfindenden Besuch von Frankreichs Präsidenten Raymond Poincaré beim Zaren Nikolaus II. in Sankt Petersburg. Beide Staaten gelten als potentielle Kriegsgegner Deutschlands (und Österreich-Ungarns), beide Staaten verbindet damals eine Militärkonvention, die beim Staatsbesuch von Gast und Gastgeber gepriesen wird.

Lob für Frankreichs Staatschef und den Zaren

Was damals nicht in der Zeitung steht: Poincarés Bekenntnis festigt Russlands Wille, als Schutzmacht den bedrängten Serben beizustehen. Und Frankreich, das innenpolitisch ohnehin eine Debatte darüber führt, viel schwächer als der "Erbfeind" Deutschland zu sein (mehr dazu hier), fühlt sich ein gutes Stück sicherer.

Allerdings beteuern Nikolaus und Poincaré bei dem Gipfeltreffen in dem (nahe der Zarenhauptstadt befindlichen Residenzort) Peterhof auch, was sie als vorrangiges Ziel sehen: "Die Erhaltung des Gleichgewichts und des Friedens in Europa", sagt der Zar bei seiner Rede zum Galadinner. Poincaré antwortet mit einem Trinkspruch, Paris werde "das Werk des Friedens und der Zivilisation verfolgen".

Der Leitartikler lobt die Aussagen Poincarés und des Zaren. Die "maßvollen und klug abwägenden Trinksprüche" beider Staatsoberhäupter zeigen "die Merkmale strengen Verantwortungsgefühls und verständiger Zurückhaltung". Allerdings weist er auch darauf hin, dass es in Frankreichs und Russlands Elite Männer gäbe, die lieber mit dem Säbel rasseln. Gerade vor der massiven Aufrüstung des Zarenreichs fürchtet sich das deutsche Kaiserreich.

In den letzten Absätzen schreibt der Autor Klartext und seine Kritik richtet sich auch an die deutsche Seite (was ungewöhnlich genug ist für die damalige Zeit): Es gebe einen "unheimlichen Rüstungswetteifer", heißt es. "Hüben wie drüben" gebe es eine "nervöse oder gar chauvinistische Presse", die "in unverantwortlicher Weise die kriegerischen Leidenschaften" reizt, die in jedem größeren Staat schlummerten.

Der Artikel schließt mit einem prophetischen Satz, der vor einem gewaltigen Gemetzel auf dem Kontinent warnt: "Es heißt, auf der Wacht zu sein, damit keine aberwitzigen Hände dein Feuer entzünden, an dem Europas Zivilisation, Kultur und Weltstellung verbrennt".

Hanseatischer Krawall

Direkt unter dem Text ist eine Meldung gedruckt, nach der in Wien diejenigen Männer der Habsburger-Monarchie zusammengekommen sind, die den Konflikt mit Serbien in den folgenden Tagen in die Eskalation lenken werden.

Doch nach einem unmittelbar bevorstehenden Weltenbrand liest sich der Rest der Zeitung nicht. Darin werden beispielsweise das "Pflasterprogramm 1915" und die damit verbundenen Kosten (mindestens 434993 Reichsmark) für den Münchner Straßenbau thematisiert.

Im Artikel "Tragische Erotik" wird erotische Literatur breit abgehandelt, die damals "ein stattliches Kontingent" unter den Neuerscheinungen bilden. Meist handeln die Romane davon, dass ein Mann und eine Frau hin- und hergerissen sind, zwischen Liebe und Triebe, zwischen Vernunft und Wollust, zwischen Sinnlichkeit und Keuschheit, "Liebesfreuden" und "Sittlichkeit". Alles etwas gestelzt und verklemmt formuliert, aber trotzdem: 1914 wie 2014 ist es dieselbe Leier.

So wie manchmal noch heute in Hamburg. Dort kam es in der Nähe der Landungsbrücken zu einem nächtlichen "Zusammenstoß der Polizei und Rowdies" (ja, wirklich: in der Meldung steht dreimal das Wort "Rowdies").

Was vorher passiert ist: Junge Männer störten die Abendruhe. Als die Polizisten sie auf die Wache nehmen wollen, sollen 20 weitere Männer dazugekommen sein, später wurden es noch mehr. Die Beamten hätten "blank gezogen". Bilanz eines "heftigen Kampfes": Ein Polizist mit Stichverletzungen, mehrere schwer verletzte Randalierer. Nebenan, im damals noch eigenständigen Altona, gab es ebenso Bambule. Dort sei ein "Steinhagel" auf die Beamten niedergegangen. Hamburger Verhältnissen eben.

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