Münchner Neueste Nachrichten vom 29. Juli 1914:Erste Gefechte in Serbien, Run auf deutsche Banken

Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichtem vom 29. Juli 1914

Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 29. Juli 1914

(Foto: Oliver Das Gupta)

Heute vor 100 Jahren in der Zeitung: Der Erste Weltkrieg beginnt in Serbien - und wirkt sich sofort europaweit aus: In Berlin demonstriert die SPD gegen Krieg, in Wien explodieren die Nahrungsmittel-Preise. Und der Münchner Stadtrat fällt eine Entscheidung, die noch 2014 Bestand hat.

Von Oliver Das Gupta

Der Weg in den Ersten Weltkrieg

Die SZ dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten im Sommer 1914 über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Am Morgen des 29. Juli steht es schwarz auf weiß in der Zeitung: Österreich-Ungarn hat Serbien am Vortag den Krieg erklärt, der Wortlaut ist in den Münchner Neuesten Nachrichten abgedruckt (wobei die Passage fehlt, in der Kaiser Franz Joseph I. auf einen serbischen Feuerüberfall Bezug nimmt, der nie stattgefunden hat).

In der Zeitung stehen dürre Zeilen von "ersten Zusammenstößen". Am Grenzfluss Drina hätten Kämpfe begonnen, in Semlin soll die Bahnbrücke gesprengt worden sein. Auf beiden Seiten sei der Aufmarsch der Truppen noch im Gange.

Der bislang lokale Krieg wirkt sich jetzt schon massiv auf den Rest Europas aus:

  • Überall in Europa kommen die Regierungen und Militärs zusammen, die Armeen werden jetzt oft in verstärkte Alarmbereitschaft versetzt. Selbst in den neutralen Ländern Schweiz und Belgien wird über Mobilmachungen geredet, aber diese werden nicht vollzogen.
  • In St. Petersburg habe die österreichische Kriegserklärung "wie ein Blitz" eingeschlagen, schreibt die SZ-Vorgängerzeitung - schließlich ist das Zarenreich die Schutzmacht Serbiens. Demonstranten wollen vor den Botschaften Deutschlands und Österreichs demonstrieren, Polizisten beschützen die Gesandtschaften. Gerüchte (die sich als unwahr erweisen sollten) über einen Entspannung versprechenden Brief von Österreichs Kaiser an Zar Nikolaus II. machen die Runde. Russland habe noch keine Mobilmachung angeordnet, heißt es (wobei seit Tagen die Armee des Herrschers heimlich schon teilweise mobilisiert wird). Doch es gibt auch offizielle Anzeichen, dass sich Russland auf Krieg vorbereitet: In den an Österreich-Ungarn grenzenden Militärbezirken ist das Militär alarmiert, am Schwarzen Meer werden fast alle Leuchtfeuer gelöscht, russische Truppen mit Marschbefehl nach Osten werden angehalten - um sich nicht weiter vom möglichen Kriegsschauplatz zu entfernen.
  • Auch im mit Russland verbündeten Frankreich macht offiziell nicht mobil. Der damalige "Erbfeind" des Deutschen Reiches wartet die Rückkehr von Präsident Raymond Poincaré ab. Die französische Presse schreibt, die Nation wolle den Frieden erhalten, sei aber für den Kriegsfall gewappnet: "Frankreich ist bereit." Mobilmachungsgerüchte werden eilig dementiert (tatsächlich wartet die französische Regierung noch mit diesem Schritt, weil sie Deutschland gegenüber nicht als Aggressor dastehen will). Die Pariser Börse sei nur noch "nominell" geöffnet, es gebe dort "so gut wie gar keinen Verkehr", heißt es.
  • In Österreich-Ungarn verdunkelt sich die Stimmung. Die Münchner Neuesten Nachrichten drucken das berühmte Manifest des Kaisers "An meine Völker" in voller Länge ab (hier der volle Text). Franz Joseph I. "siedelt von Ischl nach Budapest über, um dem Schauplatz der Ereignisse näher zu sein". Großen Platz erhält die Begründung Wiens, warum die Antwort Belgrads auf die österreichischen Forderungen einen Waffengang nach sich ziehen müsste. In manchen Städten der Habsburger Monarchie kommt es unter dem Eindruck des Krieges zu massiven Preissteigerungen für Nahrungsmittel. Aus Prag wird berichtet, dass Mehl sich immens verteuert. In Wien sollen Kartoffeln plötzlich mehr als doppelt so viel kosten wie am Vortag.
  • Großbritannien müht sich auch nach Beginn des Krieges, eine diplomatische Lösung auf den Weg zu bringen. Außenminister Edward Grey soll angeblich eine neue Vermittlungsinitiative starten (was tatsächlich auch der Fall ist. Die Österreicher sollten in Belgrad die Truppen stoppen - so ähnlich hat es auch der deutsche Kaiser Wilhelm II. Wien empfohlen). Die britische Presse zankt sich inzwischen untereinander: Manche Blätter werfen anderen Medien vor, das Empire in einen "eventuellen Krieg hineinzuzerren". In der Abendausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten werden Stimmen aus dem britischen Unterhaus wiedergegeben, wonach das Vereinte Königreich "neutral bleiben sollte, jedenfalls solange die Neutralität Hollands und Belgiens nicht verletzt wird". (Tatsächlich sollten die Deutschen wenige Tage später in Belgien einmarschieren - für London der casus belli).
  • In Deutschland drängen viele besorgte Bürger zu den Banken, um ihre Ersparnisse abzuheben. In München sei es zu einem "Sturm auf die Sparkasse" (ein anderes Mal ist bemerkenswerterweise von einem "Run" die Rede) gekommen, die am Vortag eine Million Reichsmark ausbezahlt habe. Ebenso würden viele ihre Wertpapiere verkaufen. Die Lokalbeilage der SZ-Vorgängerzeitung appelliert an die Leser: "Werft euer Geld nicht weg". Pfandbriefe seien auch zu Kriegszeiten eine "vollkommen sichere Wertanlage", denn nur ein Staatsbankrott würde sie entwerten, heißt es (wie sich so ein Totalausfall des Staates auswirkt, mussten die deutschen Anleger 1918 erfahren). In Berlin sei es zu 32 großen Demonstrationen der SPD und ihren Anhängern gekommen, berichtet die Zeitung weiter. Tausende sozialdemokratisch eingestellte Bürger hätten Arbeiterlieder gesungen, ab und zu seien Rufe erschallt wie "Nieder mit dem Krieg und den Kriegshetzern". Es sei zu Zusammenstößen mit national gesinnten Männern und der Obrigkeit gekommen. Das Polizeipräsidium Berlin habe ein Verbot von patriotischen Umzügen verhängt - der Straßenverkehr dürfte nicht gestört werden.

Fatale Fehleinschätzung des Kaiser-Bruders

Ende Juli ist der Krieg noch ein lokaler - doch die Münchner Neuesten Nachrichten sprechen die Gefahr offen an, dass sich der Konflikt auf die Großmächte ausweitet. Österreich-Ungarn "kümmert sich um keinen Interventionsversuch" auf diplomatischer Ebene, heißt es im Leitartikel der Morgenausgabe. Gleichzeitig werden die Vermittlungsversuche des britischen Außenministers Grey gewürdigt, auch von offizieller Seite. Doch die mächtigen Männer des Reichs haben wenig Interesse an einer friedlichen Beilegung der Krise.

Hinter den Kulissen hat die Reichsführung längst die Ausweitung des Krieges geplant. Die Männer um den Kaiser fühlen sich eingekreist von Frankreich und Russland (hier mehr dazu) - ein schneller Krieg soll die Stellung des Reiches ein für alle Mal von seinen beiden großen Rivalen befreien und zum Hegemon auf dem Kontinent machen.

Zwei Dinge sind der Reichsführung wichtig:

  • Dass Deutschland als angegriffenes Land dasteht. Obwohl einige Militärs drängen, den Kriegszustand auszurufen oder wenigstens zu mobilisieren, bremst Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg. Sein Kalkül: Russland soll zuerst Österreich angreifen - dann habe es "die Schuld für den großen Kladderadatsch".
  • Dass Großbritannien neutral bleibt. Prinz Heinrich, Kaiser Wilhelms Bruder, ist dazu in diskreter Mission nach London gereist und hat bei seinem Onkel, dem britischen König George V., vorgefühlt. Doch offenkundig kam es zu einem Missverständnis, denn Heinrich meldet an jenem 29. Juli: King George habe ihm versichert, London werde "alles versuchen, was wir können, um uns rauszuhalten, und wir werden neutral bleiben". Sein kaiserlicher Bruder Wilhelm II. frohlockt darauf: "Ich habe das Wort eines Königs, das genügt mir." Am Vortag schien Wilhelm noch den Krieg abblasen zu wollen und hatte in einem Brief an die österreichische Führung vorgeschlagen, den Feldzug gegen Serbien zu stoppen (hier mehr dazu).

Von diesen deutschen Überlegungen steht damals nichts in der Zeitung, dafür andere, längst vergessene Nachrichten. Aus Paris wird das Ende des Mordprozesses gegen Henriette Caillaux verkündet. Die Sozialistin und zweite Gattin von Ex-Premierminister Joseph Caillaux hatte den Chefredakteur der Zeitung Le Figaro umgebracht, weil dieser aus intimen Briefen zitieren wollte (hier mehr dazu). Nun wurde sie freigesprochen - ihre Anhänger hätten sie aus dem Gericht "jubelnd hinausgeleitet".

Außerdem meldet die Zeitung, dass der Münchner Personen-Verkehr ausgebaut wird. Der Magistrat der Stadt beschloss demnach, die Straßenbahn zu erweitern. Und zwar von Sendling zum Nymphenburger Schloss und dann weiter zum Botanischen Garten. Eine Entscheidung, die auch nach 100 Jahren Bestand hat. Denn auf dieser Strecke rollt die Tram auch heute noch.

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