Münchner Neueste Nachrichten vom 8. Juli 1914:Bevor das "großzügige" Morden beginnt

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Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Münchner Neueste Nachrichten vom 8. Juli 1914

(Foto: Daniel Hofer)

Die Minister in Wien wollen den Folgen der Thronfolger-Ermordung noch auf unkriegerische Weise Herr werden. Außerdem berichtet das SZ-Vorgängerblatt heute vor hundert Jahren über eine Liebe, die mit einem Selbstbinder tödlich endet, und über Geschlechtskrankheiten der Stadtbewohner.

Von Barbara Galaktionow

Im Sommer 1914 wollen einige Menschen in München ihrem Leben eine neue Richtung geben. Ein arbeitssuchender "Herrschaftsgärtner" hofft auf einen ihm gemäßen Posten. Eine "Dr. phil. Dame, humanistisch gebildet" zeigt sich überzeugt, eine Redaktion könne sich mittels ihrer Anstellung eine "hervorragende bewährte Arbeitskraft sichern".

Ein "Herr vom Lehrfach, in sicherer Stellung" sucht zwecks Heirat "nur hübsches, gebildetes Fräulein". Ein "besseres, alleinstehendes Frl." hingegen einen "Lebenskameraden". Sie und viele weitere inserieren am 8. Juli 1914 in den Münchner Neuesten Nachrichten, wohl in der Hoffnung auf eine Veränderung.

Und ihr Leben wandelte sich mit Sicherheit - wenn auch wohl nicht in der erhofften Form. Nicht einmal einen Monat später befand sich Deutschland im Krieg. Männer mussten an die Front, wurden verwundet oder getötet. Frauen und Kinder bangten um ihre Angehörigen. Sie mussten schauen, wie sie ohne Ernährer durch die schweren Zeiten kamen. Arbeit wurde oft schlechter bezahlt als vor dem Krieg, Lebensmittel immer knapper.

Doch zurück zum 8. Juli: In Wien habe sich der Ministerrat mit den Folgen der Ermordung des österreichischen Thronfolgers befasst, meldet das SZ-Vorgängerblatt an diesem Tag. Dabei habe es "einiges Aufsehen erregt, daß sich vor Beginn des Ministerrats auch der Chef des Generalstabs, Generals der Infanterie v. Conrad, und der Stellvertreter des Marinekommandanten, Vizeadmiral v. Keiler, im Ministerium eingefunden hatten", heißt es weiter. Zudem sei die Beratung "von ungewöhnlich langer Dauer (gewesen) und währte fast fünf Stunden".

Also eine Vorahnung des Kommenden? Der drohenden Kriegsgefahr? Mitnichten. Zwar sollte der Ministerrat darüber beraten, ob außer juristischen Konsequenzen - für die das Gericht in Sarajewo zuständig sei - "auch noch diplomatische Maßregeln zu ergreifen wären", wenn sich Beweise eine Verwicklung Serbiens in das Attentat gefunden hätten. Aber die Zeitung gibt Entwarnung: Es sei "als sicher anzunehmen, daß ein militärisches Vorgehen nicht ins Auge gefaßt worden ist", schreibt das Blatt. Ein Irrtum, wie sich schon bald herausstellen sollte: Wurde doch hier in Wien der "diplomatische" Vorstoß diskutiert, der zum Weltkrieg führen sollte: Das Ultimatum an Serbien.

Im am gleichen Tag erscheinenden Vorabend-Blatt wird dann deutlich, mit welchen Mitteln die Minister dem Konflikt zwischen der österreichisch-ungarischen Monarchie und großserbischen Nationalisten auf dem Balkan Einhalt gebieten wollen: Weiterer Agitation in Bosnien solle "durch Verwaltungsmaßnahmen, vornehmlich auf dem Gebiete der Polizei" vorgebeugt werden.

Zwiespältige Meldungen kommen hingegen aus Russland, dem Verbündeten Serbiens. "Von besonderer russischer Seite", sei zu erfahren, dass Russland keineswegs dagegen protestieren würde, wenn Österreich-Ungarn von Serbien eine Untersuchung der Verbindungen zum Attentat verlangt, ist zu lesen. Andererseits habe das Zarenreich seine Waffenübungen mit Hunderttausenden russischen Landwehrmännern und Reservisten bis zum 1. Oktober verlängert. Die Reichspost deute dies als Drohgebärde Russlands, das bereit sei, "im Falle eines bewaffneten Einschreitens Wiens gegen Belgrad Österreich in den Rücken zu fallen".

Mit Sprengstoff "großzügig drauflos morden"

Serbien verwahrt sich gegen den Vorwurf, in irgendeiner Weise für das Attentat verantwortlich zu sein. In Bosnien boykottieren serbische Kaufleute und Reisende Medienberichten zufolge die österreichische Donau-Dampfschifffahrt - aus Protest gegen serbenfeindliche Übergriffe nach dem Attentat. Dort sind weitere Verdächtige festgenommen worden, darunter auch eine Schwester des erfolglosen Bombenwerfers Nedjelko Čabrinović.

Doch die Verwicklungen infolge der Bluttat in Sarajewo finden sich erst im hinteren Teil des Blattes, auch, weil diese offenbar erst kurz vor Redaktionsschluss beim sogenannten "Depeschendienst" hinzugefügt wurden. Die Titelseite zeigt, dass noch ganz andere Themen die Menschen beschäftigen oder - nach Ansicht der Zeitung - beschäftigen sollen:

  • Ein Korrespondent berichtet beispielsweise aus Paris über die Arbeit einer kurz zuvor gegründeten deutsch-französischen Liga. Die verfasse gerade einen Text für einen gemeinsamen Aufruf. Der Journalist zeigt sich zuversichtlich, dass das Unternehmen gelingen werde: "Gerade die phrasenlose Nüchternheit dieses Textes dürfte die beste Gewähr für den Erfolg der neuen Liga sein", schreibt er. Nicht einmal einen Monat später sollten sich beide Nationen bekriegen.
  • Sehr offiziös wirkt eine Meldung über den Besuch des belgischen Monarchen Albert in Bern ("Der König trank sodann auf das Wohlergehen der Schweiz ..."). Doch auch hier ließen die kommenden Entwicklungen schon kurze Zeit später keinen Raum mehr für behäbig-prunkvolle Zeremonien: Am Morgen des 4. August 1914 musste König Albert erleben, dass das Deutsche Kaiserreich sich einen Dreck um die Neutralität seines Landes scherte - und deutsche Soldaten in Belgien einmarschierten.
  • Noch relevanter werden sollten nach Ausbruch des Krieges Fortschritte auf einem anderen Gebiet, das auf der Titelseite angesprochen wird: der Entwicklung von Sprengstoff. Ein Experte betont die zweischneidige Konsequenz: "Einige Jahre genügen, um mit ihrer Hilfe einen Tunnel von 20 Kilometer durch einen Gebirgswall zu bohren, einige Minuten, um Panzerkreuzer im Wert von 50 Millionen in die Luft zu sprengen", zitieren die Münchner Neuesten Nachrichten den Mann. Mit den Sprengstoffen "morden die Menschen (...) viel großzügiger drauflos als einst".
  • Weiter hinten im Blatt findet sich ein Bericht über Fanny Bullock Workman, eine damals berühmte Himalaja-Bezwingerin. Die US-amerikanische Geografin und Schriftstellerin habe "schon so Bedeutendes in der Bezwingung der höchsten Gipfel der Erde geleistet", lobt die Zeitung. Nun sei sie auf ihrer neunten Expedition.
  • Ein Liebesdrama hat sich in einem Leipziger Hotel ereignet. Der "Reisende Lüderitz aus Magedeburg" erdrosselte dort "seine Geliebte, eine Magdeburger Kontoristin, auf deren Wunsch hin mit einem Selbstbinder" (damaliges Wort für Krawatte). Sein eigener Selbsttötungsversuch mit einem Revolver misslang.
  • Wichtig erscheinen den Blattmachern auch die Ergebnisse einer Studie zu "Geschlechtskrankheiten in deutschen Großstädten". Mit dieser sollte endlich klargestellt werden, wie viele Menschen überhaupt betroffen sind. Die Studie leide jedoch unter Ungenauigkeiten, "da viele Geschlechtskranke sich aus Leichtsinn oder Unverstand der ärztlichen Behandlung entziehen" und daher in keiner Statistik auftauchen, beklagt das Blatt. Schon bald sollte die Zahl von Männern mit Syphilis und anderen Geschlechtskrankheiten deutlich steigen. Den Gräueln an den Fronten des Kaiserreichs versuchten viele Soldaten zumindest zeitweilig zu entfliehen - durch den Besuch von Prostituierten. Und das Thema sexuelle Kriegsführung wird erst in diesen Tagen ansatzweise aufgearbeitet.

Die Tageszeitung Münchner Neueste Nachrichten erschien von 1848 bis 1945 in der bayerischen Landeshauptstadt. Das Blatt war zeitweise die auflagenstärkste tagesaktuelle Publikation in Süddeutschland. Während des Kaiserreiches war die Zeitung liberal ausgerichtet, in der Weimarer Zeit war sie konservativ-monarchistisch, nach der Machtergreifung der Nazis wurde das Blatt gleichgeschaltet. Süddeutsche Zeitung nannten sich die Münchner Neuesten Nachrichten als Untertitel, einen Namen, den die SZ bei ihrer Gründung 1945 annahm. Bis heute trägt der SZ-Regionalteil den Titel Münchner Neueste Nachrichten.

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