Münchner Neueste Nachrichten vom 30. Juli 1914:Alles hängt von Russland ab

Zar Nikolaus II. und Kaiser Wilhelm II.

Hochrangige Cousins: Zar Nikolaus II. (l.) und Kaiser Wilhelm II.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Heute vor 100 Jahren in der Zeitung: Wegen der Teilmobilisierung unterstellen die Münchner Neuesten Nachrichten Russland kriegerische Absichten. Einen Hoffnungsschimmer sehen sie in Telegrammen zwischen Zar "Nicky" und Kaiser "Willy". Die Bevölkerung im Elsass ist weniger optimistisch.

Von Barbara Galaktionow

Wird Belgrads mächtige Schutzmacht eingreifen? Zwei Tage nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien dringen Nachrichten von umfassenden Mobilmachungen in Russland nach Deutschland. Wird sich der vorerst lokal begrenzte Konflikt ausweiten? Steht ein Krieg in Europa bevor? Die Münchner Neuesten Nachrichten zeigen sich am 30. Juli 1914 überzeugt: Alles hängt von Russland ab.

Der Weg in den Ersten Weltkrieg

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Die Verhalten Sankt Petersburgs erscheint dem Blatt zögernd und zwiespältig. Zwar sei die Sprache Russlands freundlich, doch zeige sich ein gewisser Widerspruch zwischen den "lauen und unverbindlichen Versicherungen der Friedensliebe" und den "starken Rüstungen und umfassenden militärischen Vorbereitungen", die das Zarenreich betreibe. Die Diplomatie sei womöglich nur ein "Schleier", mit dessen Hilfe Sankt Petersburg Zeit für Kriegsvorbereitungen gewinnen wolle.

Auf der anderen Seite: umfassende Friedensliebe - glaubt zumindest die Zeitung. "Wir würden nur dann nicht in Frieden bleiben können, wenn es den bösen Nachbarn nicht gefällt", heißt es. Weder Deutschland noch Österreich dächten auch nur im Entferntesten daran, Russland anzugreifen.

Was sie nicht weiß: Damit verbreitet das Blatt genau das, was sich die Regierungen und Militärs in Berlin und Wien wünschen, die seit der Thronfolger-Ermordung Ende Juni in Sarajewo heimlich den Krieg planen. Den wollen sie sich auch nicht mehr durch die ernst gemeinten Vermittlungsbemühungen Londons vermiesen lassen (mehr dazu hier).

Die vordergründig gezeigte Verhandlungsbereitschaft der zwei Kaiserreiche in der Mitte Europas soll vor allem eines bewirken: den Gegnern die Verantwortung für den Krieg zuschieben. Die anderen haben angefangen, möchten die Spitzen in Berlin und Wien sagen können, wir haben nur reagiert. Und der Plan geht, soweit es die öffentliche Meinung in ihren Ländern betrifft, voll auf.

"Die deutsche Regierung wird sicher der durch Rußlands merkwürdiges, verdächtiges Zögern heute einer Verschlechterung zusteuernden Lage Rechnung tragen müssen", heißt es in der Abendausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten vom 30. Juli 1014. Was für ein Trugschluss!

Völlig unberechtigte Hoffnungen setzt das Blatt dementsprechend auch in eine Korrespondenz zwischen den Monarchen Russlands und Deutschlands, die unter der saloppen Bezeichnung Nicky-Willy-Telegramme in die Geschichte eingehen sollten: Ein Telegramm von Zar Nikolaus II. an seinen Cousin, den deutschen Kaiser Wilhelm II., habe sich mit einer Depesche in Gegenrichtung gekreuzt.

Zwar wisse man nichts Genaues über den Inhalt, doch eines sei klar: "Die beiden mächtigsten Monarchen Europas greifen also wieder (...) persönlich ein, um die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, die sich der Wahrung des Friedens entgegentürmen." Auch hier gelingt die beabsichtigte Verschleierung, denn der Telegrammwechsel wird von deutscher Seite ebenfalls zu dem Zweck geführt, die eigenen Kriegsabsichten zu verbergen. Bei Zar Nikolaus bewirken die Telegramme von seinem Vetter Wilhelm aus Berlin hingegen, dass er den Befehl zur vollständigen Mobilmachung um einen Tag nach hinten verschiebt.

Bestürzung und Begeisterung bei Wiener Fabrikarbeitern

Außer dem - wie wir heute wissen - völlig falschen "Bild vom Stand der Dinge", finden sich noch einige weitere Nachrichten zum Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Serbien:

  • Sowohl in Berlin, als auch in Paris und Petersburg kamen die Spitzen der Regierung und der Armee am Abend zu stundenlangen Beratungen zusammen. Ja, im Elyséepalast holten die Minister Präsident Raymond Poincaré sogar um Mitternacht zu einer überraschenden Sitzung zusammen. Worum es in all diesen Gesprächen ging, drang jedoch nicht nach außen.
  • Aus Belgrad wird unter Berufung auf die Vossische Zeitung von Gefechten zwischen serbischen und österreichischen Truppen berichtet. Auf österreichischer Seite sind dabei auch drei Donaumonitore, also Flusskriegsschiffe, im Einsatz. Es gibt Mutmaßungen über die Einnahme Belgrads und eine "schwere Niederlage Serbiens", die sich aber im Laufe des Tages als unzutreffend erweisen. Im Abendblatt wird auf der Titelseite sogar eine kleine Karte Belgrads abgedruckt.
  • "Der erste Verwundete auf österreichischer Seite ist der österreichische Leutnant bei den Pionieren Joseph Kerler", meldet das Blatt noch. Es kann nicht wissen, dass sich der Konflikt in Serbien schon bald zum Weltkrieg ausweiten wird - und die Zahl der Toten und Verwundeten in die Millionen gehen wird. Namentlich werden dann nur noch die wenigsten genannt.
  • Die Nachricht vom Krieg Österreichs gegen Serbien und "besonders das Manifest des Kaisers Franz Joseph" "An meine Völker!" (hier im Wortlaut nachzulesen) finden in der ganzen Monarchie begeisterten Widerhall, schreibt das Blatt. Stürmischen Beifall gibt es in der Presse: "Mit glühenden Lettern graben sich die Sätze des Manifestes, dieses Dokumentes edelster monarchischer Gesinnung, in aller Herzen", wird das Neue Wiener Tagblatt zitiert. In der österreichischen Hauptstadt hätten auf dem Ballhausplatz, vor dem Kriegsministerium, vor der deutschen und der italienischen Botschaft "begeisterte Kundgebungen" stattgefunden.

Im Morgen- und im Abendblatt finden sich zudem - zum Teil unter der Rubrik "Buntes Feuilleton" - anschauliche Berichte darüber, wie der Kriegsausbruch an verschiedenen Orten aufgenommen wurde. Es wird beschrieben, wie in einer Wiener Fabrik die erste Bestürzung über den anstehenden Krieg einer gemäßigten Kriegsbegeisterung weicht.

In Salzburg gibt es "nirgends eine tausenköpfige Menschenmenge, keine flatternden Fahnen, keine Musik", doch am Bahnhof zeigen sich die fast tausend Reservisten kameradschaftlich. Aus Böhmen berichtet ein Korrespondent, dass bei den in den Krieg ziehenden Soldaten "ein prächtiger Geist (...), eine schlichte Männlichkeit, eine - wie soll ich sagen - würdige Fröhlichkeit" herrschte.

In Straßburg im Elsass ist die Stimmung hingegen eine ganz andere. Von der Milchfrau bis zum Metzgesellen stehe vor allen "wie ein großes drohendes Gespenst nur der Krieg". In den Lebensmittelabteilungen der Warenhäuser herrsche enormer Andrang. Die Bedrohung durch den Krieg habe sogar ein anderes Thema völlig verdrängt: den Prozess gegen Henriette Caillaux.

Freispruch dank drohendem Krieg

Die Gattin eines radikal-linken Politikern in Paris hatte einige Monate zuvor in Paris den Chefredakteur der konservativen Zeitung Figaro ermordet (die Zeitung berichtete schon am 24. Juli 1914 ausführlich darüber). Im Prozess wird vor allem die Frage verhandelt, ob dies aus politischen Gründen oder wegen der anstehenden Veröffentlichung intimer Briefe geschehen sei. Ebenfalls wichtig ist die Frage, ob Frau Caillaux eine "Frau von Kopf und kaltem Blut" sei, also berechnend gehandelt habe, oder ein empfindsames, aus spontaner Erregung heraus agierendes Frauenzimmer, wovon auch ihre vielen Ohnmachtsanfälle vor Gericht zeugen sollten.

Wesentlich für das Urteil ist den Münchner Neuesten Nachrichten zufolge die "glänzende Verteidigungsrede". Der Anwalt verweist in seinem Plädoyer darauf, dass es für Franzosen in der gegenwärtigen weltpolitischen Situation größere Gegner gäbe als die kleine Madame Caillaux: "Sprechen Sie Frau Caillaux frei, sparen wir unseren Zorn für unseren äußeren Feind auf, verlassen wir alle diesen Saal mit dem Entschluß, uns einträchtig gegen die Gefahr zu wenden, welche uns bedroht." Am Beginn des Ersten Weltkrieg klingt das für die Geschworenen offenbar überzeugend - der Prozess endet mit einem Freispruch.

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