Münchner Neueste Nachrichten vom 1.8.1914:"Russland will den Weltkrieg"

Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 1. August 1914

Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 1. August 1914

(Foto: Oliver Das Gupta)

Heute vor 100 Jahren in der Zeitung: Der Kaiser lässt die deutsche Armee gegen Russland mobilisieren, auch Frankreich, Belgien und die Schweiz aktivieren ihre Heere. Der drohende Krieg sorgt für Begeisterung in Berlin und München. Das SZ-Vorgängerblatt schlägt plötzlich drastische Töne an.

Von Oliver Das Gupta

Am 1. August 1914 sind die Würfel gefallen. Die deutschen Streitkräfte (und die damals noch eigenständige bayerische Armee) werden mobilisiert. Kaiser Wilhelm II. unterzeichnet die entsprechende Order.

In den Münchner Neuesten Nachrichten ist die Neuigkeit zwar noch nicht abgedruckt. Doch die Erwartung ist klar: "Deutschland vor dem Kriege", titelt die SZ-Vorgängerzeitung

Russland habe seine Armee mobilisiert, Deutschland empfinde das als Bedrohung des Reichs (und seines Bündnispartners Österreich-Ungarn). Der Kaiser habe den Zaren ultimativ aufgefordert, diesen Schritt rückgängig zu machen, doch Sankt Petersburg reagiere nicht, heißt es. Darauf habe die Reichsführung den "Zustand drohender Kriegsgefahr" (was mit dem Notstand vergleichbar ist) verhängt. In der Zeitung von damals wird er fast durchgehend als "Kriegszustand" bezeichnet. Grundrechte werden eingeschränkt, Kompetenzen der Zivilverwaltung gehen auf das Militär über, in der damals bayerischen Rheinpfalz gilt nun das Standrecht.

Viele Menschen in Berlin und München jubeln über die Entwicklung. In der bayerischen Hauptstadt schlängelt sich die Kunde von der Verhängung des Kriegszustandes "wie ein Lauffeuer" durch die Straßen des Zentrums. Abends um sechs Uhr sei der Generalsmarsch geschlagen worden. "30 Tamboure" seien vom Polizeipräsidium (damals wie heute in der Ettstraße) zu den Bezirkskommissariaten gefahren.

Dort habe ein Bezirksbeamter die Verhängung des Kriegszustandes verlesen - "nach dem Trommelwirbel des Tambours". Die Stimmung sei freudig, die Trommler würden von Hochrufen begleitet, auch vor der Redaktion der Münchner Neuesten Nachrichten. Am Hauptbahnhof gebe es allerdings einen andersgearteten Ansturm. Fremde "reisen so schnell als möglich ab".

Aus der Reichshauptstadt Berlin wird gemeldet, wie der Kaiser und seine Angehörigen von einer Trauung im Schloss Bellevue in Automobilen zum Stadtschloss fahren und dabei von den begeisterten Passanten "mit Ovationen überschüttet" werden. Menschenmassen ziehen durch das Regierungsviertel, durch die Wilhelmstraße und Unter den Linden, singen die Nationalhymne und andere patriotische Lieder, schreiben die Münchner Neuesten Nachrichten.

Um Mitternacht hätten sich 300 000 Menschen vor dem Palais des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg versammelt. Der Regierungschef sei am Fenster erschienen und habe eine Rede gehalten. Er sprach vom "Kampf um unsere Existenz" und davon, dass der Kaiser bis in die letzten Stunden für den Frieden gewirkt" habe.

Das ist glatt gelogen. Abgesehen von einem kurzen Wackeln ein paar Tage zuvor stützt Wilhelm II. den Kurs seiner Regierung und Militärs, die österreichisch-serbische Krise zum großen Krieg unter deutscher Beteiligung eskalieren zu lassen (hier mehr dazu). Die Kriegserklärungen an Russland und auch an Frankreich sind an jenem 1. August längst vorbereitet. Der Kaiser und seine Männer wollen den großen Krieg.

Der Kaiser lässt die Korken knallen

Wilhelm verdrückt nach der Unterzeichnung der Mobilmachungsorder Tränen der Rührung. Als die irrtümliche Nachricht von der französischen Neutralität eintrifft, lässt er Sekt ausschenken. Die Truppen, die längst auf dem Weg sind, um das neutrale Luxemburg zu besetzen, stoppt der Kaiser - und sein Generalstabschef Helmuth von Moltke erleidet einen Nervenzusammenbruch.

Denn der Einmarsch in Luxemburg (und Belgien) ist Teil des Schlieffenplans, mit dem die Deutschen die französischen Festungswerke umgehen wollen, um nach Paris durchzubrechen. Als am späteren Abend klar wird, dass Frankreich wohl an der Seite Russlands kämpfen wird, sagt der Kaiser zu Moltke: Nun könne er machen, was er will.

Diese Ereignisse sind schriftlich dokumentiert - doch die Öffentlichkeit erfährt vor 100 Jahren nichts von alledem. Stattdessen lesen die Menschen damals, dass halb Mitteleuropa sich auf Krieg einstellt:

  • Die neutrale Schweiz steht vor der Mobilisierung seiner Soldaten.
  • Die belgische Regierung ordnet ebenso die Mobilmachung an.
  • Frankreich - der deutsche "Erbfeind" und Verbündete Russlands lässt die Armee ebenfalls mobilisieren.
  • Dänemark erklärt sich hingegen - mit Blick auf den bereits laufenden Krieg zwischen Österreich und Serbien - als "vollständig" neutral.
  • Die britische Regierung nimmt die Eskalation zur Kenntnis - und beschließt vorerst zu schweigen. Premierminister Asquith erklärt in London, man werde über das Wochenende beraten und sich nicht vor Montag äußern.
  • Angeblich will Japan Österreich-Ungarn beistehen, wenn die Donau-Monarchie von Russland angegriffen würde (ein fataler Trugschluss, wie sich herausstellen sollte).

Der bislang verhalten patriotische Duktus der Münchner Neuesten Nachrichten verändert sich drastisch. Die Redaktion gibt einem Land die Schuld am sich abzeichnenden Krieg: "Russland will den Weltkrieg!", heißt es. Sankt Petersburg habe Berlin hingehalten und getäuscht.

"Der Zar bittet Kaiser Wilhelm um Vermittlung (im österreichisch-serbischen Konflikt) und lässt mobilisieren." Ausführlich beschreibt die Redaktion die Vorgeschichte des Konflikts. Ein "frevelhaftes Spiel" habe das Zarenreich vollbracht, es gebe eine "Verräterei Russlands" an Deutschland, aber nun sei "das Maß voll".

Starke Kräfte in der russischen Führung setzen am Ende der Julikrise tatsächlich auf Krieg. Doch die "Verräterei" am Frieden ist vor allem auf deutscher Seite zu finden (hier mehr dazu), wie man heute weiß. Die Reichsführung will den Krieg, aber sie will den Anschein erwecken, einem Präventivschlag seiner Feinde zuvorzukommen. Die Münchner Neuesten Nachrichten gehen dem Kalkül der Kriegstreiber in Berlin auf den Leim.

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