Münchner Neueste Nachrichten vom 5.8.1914:"Achtung! Russengift"

Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten  5. August 1914 Erster Weltkrieg

Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 5. August 1914 (Morgenblatt)

(Foto: Oliver Das Gupta)

Heute vor 100 Jahren in der Zeitung: In München freuen sich Soldaten darauf Russen zu "hauen" und die SZ-Vorgängerin warnt vor Vernichtungsplänen der Feinde Deutschlands. In Berlin finanziert der Reichstag den Krieg - und vor der britischen Botschaft regnet es Geld und Sand.

Von Oliver Das Gupta

Am fünften Tag nach dem Kriegseintritt des Deutschen Reiches ist es mit dem ungetrübten Hurra-Patriotismus vorbei. Aus Berlin wird von Krawallen berichtet. Von "Erbitterung der Bevölkerung" schreiben die Münchner Neuesten Nachrichten am 5. August 1914. Handfester Unmut macht sich breit, Unmut gegen die inzwischen doch sehr zahlreichen Feinde.

Am Abend des 4. August hat Großbritannien dem Reich den Krieg erklärt, mit dem Hinweis auf den deutschen Einmarsch im neutralen Belgien. "Der Ausbruch des Weltkrieges" ist an diesem Tag der Titel der Zeitung.

"Nieder mit England!", schreien Tausende

Eine Menschenmenge habe sich am Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor versammelt. Dort befindet sich auch die französische Botschaft. Die Stimmung ist aggressiv, es gibt "Tumult". Als am Abend die Nachricht von der britischen Kriegserklärung eintrifft, gerät "die Menge in helle Wut".

Die Menschen gehen hinüber in die Wilhelmstraße zur britischen Vertretung, sie johlen und pfeifen. "Nieder mit England!", schreien Tausende. Der spanische Botschafter verlässt das Gebäude und wird rüde geschmäht - er wird mit seinem britischen Kollegen verwechselt. Aufgebrachte Demonstraten folgen seinem Automobil, bis zu seinem Hotel. Nur mit Mühe können die aufgebrachten Menschen davon abgehalten werden, es zu stürmen.

Der Berliner Börsencourier gibt der britischen Botschaft die Schuld an der Eskalation. Die "bedauerlichen Ausschreitungen" seien hervorgerufen "durch die Engländer selbst". Denn plötzlich ergießt sich aus den oberen Räumen der Vertretung ein "Hagel von blechernen Zigaretten- und Zahnputzdosen, Pennystücken und Sand auf das Publikum". Ein Wutschrei sei die Reaktion auf diese "unerhörte Provokation".

Einige Männer zerbrechen nun ihre Spazierstöcke und schleudern die Teile hoch, andere versuchen das Gebäude zu demolieren. Nur durch das beherzte Eingreifen deutscher Schutzmänner habe die Menschenmenge abgedrängt werden können, heißt es im Agenturbericht, den die SZ-Vorgängerzeitung abdruckt.

Von all diesem Unmut ist im Text des Berliner Korrespondenten der Münchner Neuesten Nachrichten aus dem Berliner Stadtschloss nichts zu lesen. Der Mann ist überglücklich. "Eine bis ans Ende unseres Lebens unvergessliche Viertelstunde liegt hinter uns", beginnt er seinen Bericht von der Eröffnung des Reichstages im Schloss.

Das beginnende globale Gemetzel scheint die Ergriffenheit des Hauptstadtreporters nicht zu trüben. Schließlich war der namenlose Autor bei dem gerade mal 15 Minuten währenden Staatsakt im Weißen Saal des Schlosses dabei. Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Hurra-Patriotismus vielen Vertretern des Bildungsbürgertums (in anderen Schichten passiert das weit weniger) vor 100 Jahren das Hirn vernebelt.

Was der Journalist als "weltgeschichtlichen Vorgang" bezeichnet: Abgeordnete versammeln sich im Saal, viele tragen schon Uniformen, auch Militärs sind da, hohe Beamte, Regierungsmitglieder, Adelige und der Hofstaat. Die Türe geht auf, Kaiser Wilhelm II. schreitet in grauer Generals-Uniform gewandet (hier mehr zu seinem Uniform-Fetisch) vor den Thron. Er hält eine Rede, die ihm sein Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg vorbereitet hat.

Der Inhalt gleicht teilweise bis aufs Wort den Reden, die der Kaiser in den Tagen zuvor geschwungen hat. Die Friedensliebe in Deutschland sei groß, aber es gebe Neider, die einen großen Krieg gegen das Reich schon lange vorbereitet haben (Eine dreiste Lüge, denn die Reichsführung war es, die die Eskalation herbeigeführt hatte, wie hier und hier zu lesen ist).

Der Kaiser beginnt leise und redet immer lauter, bisweilen wird er von Jubel unterbrochen. Dann zitiert Wilhelm seine eigenen Worte vom Mobilmachungstag (hier mehr dazu), allerdings in verkürzter Form: "Ich kenne keine Parteien mehr,. Ich kenne nur Deutsche." Alle Deutschen sollten ungeachtet der Herkunft und Konfession mit ihm "durch dick und dünn, durch Not und Tod" gehen.

Die Chefs aller Fraktionen sind ergriffen, sie drücken dem Kaiser die Hand. Der Reichstagspräsident lässt den Monarchen dreimal hochleben, man singt "Heil dir im Siegerkranz" (übrigens zur Melodie der der britischen Hymne).

Anschließend wechseln die Abgeordneten in das Reichstagsgebäude, um den "Burgfrieden" in einer wirkmächtigen Entscheidung zu manifestieren. Das Parlament bewilligt fast einstimmig fünf Milliarden Mark und die Militärvorlage - und finanziert damit den Krieg von deutscher Seite.

Auf Vorschlag der katholischen Zentrumspartei werden die Entscheidungen ohne Aussprache und Diskussion "en bloc" vorgezogen und zur Abstimmung gestellt. Die Sozialdemokraten, die Ende Juli noch Massendemonstrationen gegen den drohenden Krieg veranstaltet hatten, erklären nun, dass sie "in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht verlassen". Man begleite die in den Kampf ziehenden Soldaten ohne Unterschied mit "heißen Wünschen". Im Überschwang hebeln die Abgeordneten vitale Parlamentsrechte aus: Man verzichtet vorerst auf Neuwahlen nach Ablauf der Legislaturperiode und auf öffentliche Sitzungen.

"Haut die Russen"

Die wichtigste Nachricht handelt das Blatt allerdings erst auf Seite zwei ab: Der Eintritt des britischen Empires auf Seiten von Frankreich und Russland macht den Krieg global. Zentrale Person ist nicht der Premierminister, sondern Außenminister Sir Edward Grey.

Er nennt den Einmarsch der Deutschen in das neutrale Belgien als Kriegsgrund, aber lässt auch (als entscheidenden Grund für den Kriegseintritt) erkennen, dass London eine drastische Veränderung des Status' quo in Europa (bei einem deutschen Sieg) nicht hinnehmen kann (hier mehr dazu).

Als Opfer Russlands dastehen

Fieberhaft hatte der britische Außenamtschef in den letzten Juli-Tagen versucht, den Krieg zwischen Österreich-Ungarn zu stoppen. Die deutsche Seite, die an der Eskalation der Balkankrise zu einem Krieg mit Russland und Frankreich bastelte, wollte Großbritannien unbedingt aus dem Konflikt heraushalten. London nahm Berlin anfangs ab, den Frieden retten zu wollen - doch erkannte am Ende, dass das Reich auf Eskalation und Expansion setzte (hier mehr dazu).

Das Kalkül der deutschen Führung geht in diesen Tagen nur teilweise auf. Der Kaiser, der zahlreiche Krisen auslöste (hier mehr dazu) und immer wieder martialisch schwadronierte (hier mehr dazu), und sein militaristisches Umfeld wollten den Krieg gegen die mächtigen Kontinentalrivalen Russland und den "Erbfeind" Frankreich. Die Reichsspitze fühlte sich eingekreist (hier mehr dazu) und träumt von einem Befreiungsschlag, der beide Mächte ausschaltet und das Reich zum Hegemon macht.

Um das Ziel zu erreichen, zündeln Militärs und Reichsregierung im Sommer 1914, der Kaiser macht (mal zaudernd, dann doch forsch entschlossen) mit. Allerdings soll es so wirken, als ob der Krieg dem Reich aufgezwungen wird. Der Kerngedanke war "Russland sich ins Unrecht setzen lassen, dann aber Krieg nicht scheuen", wie der Chef des kaiserlichen Marinekabinetts Admiral von Müller in seinem Tagebuch notiert (hier mehr dazu).

Als Opfer Russlands dastehen - davon versprachen sich Reichskanzler und Militärspitzen entscheidete Vorteile. Doch am 5. August muss ihnen klar sein, dass die Rechnung in zwei wesentlichen Punkten nicht aufging.

  • Berlin spekulierte anfangs darauf, dass die Verbündeten Italien und Rumänien auf der Seite des Reichs in den Krieg eintreten. Doch beide Länder bleiben vorerst neutral.
  • Die Reichsführung wollte unbedingt einen Kriegseintritt Großbritanniens gegen Deutschland vermeiden - ohne Erfolg.

Doch innenpolitisch gelingt der Reichsführung die Täuschung:

  • Die Presse plappert bereitwillig das (manchmal ziemlich offenkundig unwahre) Narrativ der Staatsspitze nach. Russland, Frankreich und Großbritannien "überfallen uns und haben sich verschworen, uns zu vernichten", behaupten am 5. August die Münchner Neuesten Nachrichten.
  • Die kriegsabgeneigten Sozialdemokraten und anderen Parteien stellen ihre Bedenken hintan, bewilligen die Kriegskredite und scharen sich um die Reichsspitze, um den Feind in Ost und West abzuwehren.
  • Die deutsche Bevölkerung wird von wachsendem Hass auf Russland und Frankreich erfüllt. Es kommt zu Übergriffen auf vermeintliche Spione (hier mehr dazu).
  • Sämtliche Teile der Gesellschaft lassen sich bereitwillig auf Krieg umkrempeln und nehmen Nachteile ohne Murren in Kauf.

"Viel Feind, viel Ehr", schreibt das SZ-Vorgängerblatt in der Abendausgabe des 6. August mit Blick auf die britische Kriegserklärung. Doch zunächst geht es dem Blatt zufolge vor allem gegen die Soldaten des Zaren. In der Zeitung ist von kleineren Attacken russischer Einheiten in Ostpreußen die Rede, die stets abgewehrt werden. In den folgenden Tagen sollten den Russen große Erfolge gelingen, sie können erst durch die Schlacht bei Tannenberg gestoppt werden.

Am Münchner Hauptbahnhof sind die Züge "vollgepfropft" - aber nicht nur mit Soldaten. Die Ausländer verlassen wie angeordnet das Königreich Bayern via Lindau am Bodensee. Über die Schweiz wollen Russen und Franzosen in ihre Heimat gelangen, und italienische Arbeiter, "die in Deutschland ihre Stellung verloren haben".

Die Italiener staunen

Der Zug mit den Ausländern scheint gegenüber einem Zug zur Ostfront zu stehen, in dem bayerische Soldaten bester Dinge sind. "Staunend sehen die Italiener die Begeisterung", heißt es in der SZ-Vorgängerzeitung. "Haut die Russen", ruft ein Deutscher.

Der Reporter scheint das alles sehr witzig zu finden. Er schreibt: "Originell" sei die Aufschrift eines Güterwaggons, der ebenso zur Front gehen soll. Jemand habe einen Totenkopf darauf gemalt und dazu geschrieben: "Vorsicht! Russengift!".

Bald wird den Deutschen dämmern, dass der Weltkrieg nicht so ist, wie sie (und die Reichsführung) ihn sich vorstellen. Den Kampf entscheiden nicht persönliche Tapferkeit und deutsche Tugenden, sondern vor allem immer tödlichere Technologien und die schiere Menge an Material.

Der Krieg wird nicht wenige Monate dauern (wie man im August 1914 glaubt), sondern vier Jahre. Danach wird der großmaulige Kaiser beleidigt in die Niederlande verschwinden. Er hinterlässt ein traumatisiertes Land, dem 1918 von der Militärführung die nächste Lüge aufgetischt wird: das Märchen von der unbesiegten Armee, die von der politischen Linken und anderen "erdolcht" worden ist. Es ist eine weitere Täuschung, die zum Nährboden einer noch schlimmeren Entwicklung werden sollte.

Mit diesem Text endet die Serie mit täglichen Beiträgen zum Weg in den Ersten Weltkrieg in den Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren. In loser Folge wollen wir jedoch auch weiterhin versuchen, zumindest bei historisch besonders bedeutsamen Ereignissen einen Blick darauf zu werfen, wie die Zeitung damals darüber berichtete.

"Was vor 100 Jahren in der Zeitung stand":
Alle Artikel aus der Reihe zum Ersten Weltkrieg
Münchner Neueste Nachrichten
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: