Münchner Neueste Nachrichten vom 31. Juli 1914:Spektakuläre Falschmeldung erregt Deutschland

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Menschenansammlung in Berlin: Ein Gardeoffizier verliest die Verlautbarung des "Zustands der drohenden Kriegsgefahr". (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Heute vor 100 Jahren in der Zeitung: Die Pläne der heimlichen Kriegstreiber gehen langsam auf. Ein Tag noch, dann wird Deutschland Russland den Krieg erklären. Viele ahnen das Unheil - und durch "groben Unfug" wird der Aufruhr befeuert.

Von Barbara Galaktionow

Am Spätnachmittag des 30. Juli 1914 sorgt in München eine Nachricht für Unruhe: Mobilmachung in Deutschland! Als die entsprechenden Extrablätter erscheinen, sind "die Straßen im Nu wie verwandelt", berichten die Münchner Neuesten Nachrichten einen Tag später. Die Menschen rennen zu den in der Stadt angeschlagenen Bekanntmachungen. "Der Bahnhofsplatz, der Stachus, der Marienplatz glichen im Moment einem aufgestörten Ameisenhausen." In Windeseile verbreitet sich die Nachricht bis hinaus in die Vororte - und ebenso das Dementi.

Ein Extrablatt des Berliner Lokalanzeigers trug die aufsehenerregende Falschmeldung in die Öffentlichkeit, die dann in kürzester Zeit im Deutschen Kaiserreich bekannt wurde. "Durch groben Unfug" seien die Extrablätter mit der Mobilmachungs-Ente verbreitet worden, erklärt das Berliner Blatt später und betont: "Wir stellen fest, daß diese Meldung unrichtig ist."

Doch was genau geschehen ist, erfährt die Öffentlichkeit nicht. Eine "plausible Erklärung" sei die Möglichkeit, dass ein Mitarbeiter vorbereitete Extrablätter entwendet und verteilt habe, mutmaßen die Münchner Neuesten Nachrichten am 31. Juli 1914. Die Situation sei aktuell folgende: "Deutschland macht bis zur Stunde noch nicht mobil. Die Lage ist aber im höchsten Grade ernst und der Mobilmachungserlaß kann jeden Augenblick nötig werden."

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Und tatsächlich steht die konkrete Vorbereitung der Truppen auf einen Krieg kurz bevor. Am gleichen Tag meldet das Münchner Blatt in seiner Abendausgabe: "Kaiser Wilhelm (hat) den Zustand der drohenden Kriegsgefahr befohlen." Dies sei ein "vorbereitender Schritt", der der Mobilmachung allerdings noch nicht gleichkomme. Zuvor war aus Sankt Petersburg die Nachricht gekommen, dass Russland die Generalmobilmachung seiner Armee und Flotte beschlossen habe. Auf genau diesen Schritt hatte die deutsche Führung gewartet.

Petersburg will nicht neutral bleiben

Denn ist es ist keineswegs eine "fast bis zur Selbstlosigkeit friedfertige Politik", die das Deutsche Kaiserreich so lange mit diesem Schritt zögern lässt, wie die Zeitung felsenfest behauptet. Sondern, wie wir heute wissen, ist es der Wille, dem Gegner die Verantwortung für einen Krieg zuzuschieben, den vor allem Berlin gemeinsam mit seinen Verbündeten in Wien anzettelt ( hier mehr dazu).

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Zeitgleich mit der Ausrufung des Zustands drohender Kriegsgefahr sendet Deutschland ein Ultimatum an Russland, in dem es fordert, die Mobilmachung rückgängig zu machen. Als die Regierung in Petersburg es verstreichen lässt, ohne darauf einzugehen, wird Deutschland Russland am 1. August 1914 den Krieg erklären. Doch davon steht natürlich noch nichts in der Zeitung des 31. Juli.

Was sich hingegen hier findet, ist die Mitteilung eines Vertreter Russlands an den österreichischen Außenminister Leopold Graf Berchtold in Wien. Demnach wird Sankt Petersburg sich nicht verpflichten, im Krieg zwischen dem ihm nahestehenden Serbien und Österreich-Ungarn neutral zu bleiben. Daher sei auch in Österreich die allgemeine Mobilmachung in den nächsten Tagen zu erwarten, schreibt das SZ-Vorgängerblatt.

Auch vom Kriegsschauplatz auf dem Balkan gibt es Neuigkeiten. An der serbisch-bosnischen Grenze soll es zu Gefechten gekommen sein. Die serbische Hauptstadt Belgrad soll von zahlreichen Bomben getroffen, "das Lyzeum, das Grand Hotel, die französisch-serbische Bank, sowie zahlreiche andere Gebäude sollen beschädigt worden sein", heißt es.

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In Wien gestaltet sich derweil die Rückkehr von Kaiser Franz Joseph aus Bad Ischl "zu einer einzigartigen, überwältigenden Kundgebung von Herrscher- und Vaterlandsliebe". Der Monarch hatte die Bevölkerung zu Beginn des Kriegs gegen Serbien mit seinem Manifest "An meine Völker!" begeistert. Leise Töne der Sorge um den greisen Monarchen klingen nun in der Zeitung an: "Das Aussehen des Kaisers ist infolge der übermäßigen Arbeit der letzten Tage etwas leidend."

Fatalismus in Paris

In Berlin ist die Stimmung angespannt. "Alles ist von dem Gedanken erfüllt, daß die Entscheidung nicht mehr lange auf sich warten lassen kann", schreiben die Münchner Neuesten Nachrichten. Auf der Prachtallee Unter den Linden und den angrenzenden Straßen habe "gestern Abend bis weit über Mitternacht hinaus ein so gewaltiger Menschenandrang (geherrscht), wie er selten erlebt worden ist". Dabei habe die Stimmung gar nichts Lautes. Reife Männer, Beamte, junge Paare, Studenten und andere seien "still und ernst" nebeneinander hergegangen.

Noch sehr viel bedrückender ist die Situation den Berichten zufolge beim künftigen Kriegsgegner Frankreich. Zwar dementiere die Regierung in Paris Gerüchte von einer Mobilmachung, schreiben die Münchner Neuesten Nachrichten. Trotzdem sei die "Volksstimmung fatalistisch".

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Das äußert sich auch in konkreten Handlungen: Es gebe einen Ansturm auf die Banken, einzelne Restaurants und Großgeschäfte nähmen Papiergeld nicht mehr an, Einheimische und Fremde verließen zahlreich die Stadt. Das gelte insbesondere für die Deutschen: "Am Nordbahnhofe war gestern Abend ein solcher Andrang zu dem Köln-Berliner Eilzug, daß er verdoppelt werden mußte."

Aufregung rufen die aktuellen Entwicklungen auch in Marienbad hervor. Der böhmische Kurort erlebt gerade den Höhepunkt der Saison. Anfängliche Sorgen von Hoteliers und Gästen, "daß die zweifellos sehr ernste politische Situation unangenehme Rückwirkungen auf den Fremdenverkehr haben möchte", haben sich jedoch offenbar erst mal beruhigt. Nun sei die ganze mondäne Gesellschaft zuversichtlich, dass die Saison den "erwünscht ruhigen und ungestörten Fortgang" erleben werde. Diese Hoffnungen werden sich allerdings schon bald zerschlagen.

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