Münchner Neueste Nachrichten vom 27. Juli 1914:London stemmt sich gegen Kriegsgeilheit

Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 27. Juli 1914

Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 27. Juli 1914

(Foto: Oliver Das Gupta)

Die Zeitungsthemen vom 27. Juli 1914: Ein großer Krieg zeichnet sich ab, doch Großbritanniens Außenminister Grey versucht, den Frieden zu retten. Österreichische "Deserteure" werden nicht bestraft - und die SZ-Vorgängerin richtet einen Appell an "die Kapitalisten".

Von Oliver Das Gupta

Wie ist der Frieden in Europa noch zu retten? Diese Frage stellen sich Ende Juli 1914 nicht nur die Blattmacher der Münchner Neuesten Nachrichten, die sich - bei allem Patriotismus - wünschen, dass der Konflikt auf dem Balkan nicht zum großen Krieg eskaliert. "Eine eifrige diplomatische Arbeit im Interesse des Weltfriedens hat eingesetzt", heißt es im ersten Text auf der Titelseite, "und man darf hoffen, dass sie von Erfolg gekrönt sein wird."

Das Blatt berichtet von einer "Anregung" des britischen Außenministers Sir Edward Grey. Unter Berufung auf französische Medien heißt es, dass Grey die europäischen Mächte Deutschland, Frankreich und Italien ersuche, einen "gemeinsamen Kollektivschritt" in Wien und Belgrad zu unternehmen. Ziel sei eine internationale Botschafterkonferenz, die den Konflikt entschärfen soll.

Mit ähnlichen Initiativen waren in den Vorjahrzehnten Machtfragen geklärt und Kriege beendet worden, auch auf dem Balkan (hier mehr dazu). Grey versucht in jenen Tagen tatsächlich fieberhaft, den Frieden zu retten. Großbritannien will unbedingt den Status quo in Europa halten - um das Empire zu schützen. Londons Chefdiplomat hofft auf Hilfe aus Deutschland, um auf Österreich-Ungarn einzuwirken. Was Grey nicht wusste: dass erst Berlins "Blankoscheck" Wien zur Eskalation ermuntert hatte.

In Russland zeigt die Regierung nach außen immer deutlicher, dass ein österreichischer Angriff auf Serbien Krieg mit dem Zarenreich bedeuten würde. Doch hinter den Kulissen nimmt Außenminister Sergei Sasonow den Vorschlag des Briten Grey an - unter dem Vorbehalt, dass er den Erfolg eigener Gespräche mit den Österreichern abwarten wolle. Doch die direkten Verhandlungen zwischen Sankt Petersburg und Wien scheitern. Es war höchstens ein halbherziger Versuch Russlands, die Krise beizulegen.

Die österreichische Führung erklärt laut Münchner Neuesten Nachrichten, es läge kein Vermittlungsvorschlag anderer Mächte vor. Tatsächlich haben die Kriegstreiber in Wien den Fahrplan zum Waffengang längst vorgezeichnet. Man habe die Kriegserklärung an Serbien fest für "spätestens übermorgen" geplant, berichtet der deutsche Botschafter in Wien am 27. Juli geheim nach Berlin und erklärt offen, warum es Österreich-Ungarn nun so eilig hat: "...hauptsächlich, um jedem Interventionsversuch den Boden zu entziehen".

Auf Rückhalt für ihren Kurs können die österreichischen Lenker bauen, zumindest in der urbanen Bevölkerung in der Donau-Monarchie und dem Deutschen Reich. Dort ist die Stimmung ist in jenen Tagen - man muss es so drastisch formulieren - kriegsgeil. Nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien macht sich in den Städten Begeisterung über die Eskalation auf dem Balkan breit (hier mehr dazu), so auch in München.

In einem ausführlichen Artikel schildert die SZ-Vorgängerin, wie (meist männliche) Bewohner der königlich bayerischen Hauptstadt durch die heutige Fußgängerzone ziehen. In der Nacht zum Vortag "wogte in der Kaufingerstraße bis lange nach Mitternacht eine unübersehbare Menschenmenge auf und ab". Einige Hitzköpfe seien demnach zum Domizil des bisherigen serbischen Generalkonsuls Aufpitzer gezogen und hätten dort Scheiben eingeworfen - sie wussten offenbar nicht, dass Aufpitzer österreichischer Staatsbürger ist und sein Amt nach dem Sarajevo-Attentat niedergelegt hatte (wie die Münchner Neuesten Nachrichten Anfang Juli 1914 berichtet hatten).

Straflosigkeit für österreichische "Deserteure"

Österreichische Militärangehörige und Reservisten, die sich in München befinden, melden sich bei einem flugs nahe des Hauptbahnhofs eingerichteten Büro des österreichischen Konsulats, um später per Eisenbahn zu ihren Regimentern im Habsburger Reich zu fahren.

Interessant: Manche scheinen den Wehrdienst zu verweigern - und ihre Haltung scheint bei Kriegsausbruch akzeptabel zu sein. "Deserteure fanden sich ein" (im besagten österreichischen Büro), heißt es in einem Artikel. Den Kriegsgegnern sei "bekanntlich durch Amnestie Straflosigkeit zugesichert".

Die Münchner Neuesten Nachrichten bieten kurz vor Kriegsbeginn einen makaberen Service: In der Vorhalle des Redaktionsgebäudes in der Sendlinger Straße zeigt das Blatt "Aufnahmen zum österreichisch-serbischen Konflikt": Ansichtskarten von Belgrad, Fotos der serbischen und der österreichisch-ungarischen Armee und Aufnahmen von den jeweiligen Donau-Ufern beider Staaten. Dort, glaubt man in diesen Tagen, wird bald geschossen, gekämpft und gestorben. Dass das große Morden schon wenige Wochen später global wird, ist an diesem 27. Juli unvorstellbar - aber es zeichnet sich deutlich ab.

Die Münchner Journalisten scheinen zu begreifen, wie groß der Krieg werden könnte, wenn er denn ausbricht. Anders als am Vortag ("Serbien wählt Krieg!") titelt die SZ-Vorgängerin Morgen- und Vorabendausgabe weniger bellizistisch ("Der österreichisch-serbische Konflikt" und "Die österreichisch-serbische Krise").

Prominent ruft die Zeitung die Wirtschaft zur Besonnenheit auf. Man richte an die "Geschäftswelt und die Kapitalisten den Appell, unbedingt Ruhe und kühlen Kopf zu bewahren". Doch auch manche Privatleute treibt die Furcht bereits zur Bank: In Münchens "städtischer Sparkasse" seien bereits "zahlreiche Spargäste" aufgetaucht, um ihre Guthaben abzuheben.

"Der Krieg ist noch nicht erklärt", heißt es gleich zweimal fettgedruckt in der Ausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten, die am Abend des 27. Juli verkauft wird.

Was die Leser nicht wissen: Zur gleichen Zeit unterschreibt Kaiser Franz Joseph I. die Kriegsklärung Österreich-Ungarns an Serbien in seinem Urlaubsdomizil in Bad Ischl. Damit ist der formelle Beginn des Ersten Weltkrieges gemacht, der "Urkatastrophe", die das weitere Jahrhundert prägen sollte.

Der austriakische Außenminister Leopold Berchtold hatte schon eine knappe Woche vorher die Kriegserklärung mitvorbereitet und legt dem Monarchen das Papier vor. Der greise Kaiser hatte in seiner langen Regentschaft viele Kriege verloren (über seinen letzten Sieg kann man hier lesen) und ist damals nicht erpicht auf einen Waffengang.

Wohl deshalb geht Berchtold auf Nummer sicher und erzählt ihm laut Aktenvermerk, dass die Serben schon bei Temes Kubin auf Österreicher geschossen hätten. Ergo: Der Krieg sei von der Gegenseite schon begonnen worden. Doch dieser Vorfall hatte offenkundig nicht stattgefunden, wie Berchtold einige Tage später seinem Kaiser gegenüber eingestehen sollte.

Zur SZ-Startseite
"Was vor 100 Jahren in der Zeitung stand":
Alle Artikel aus der Reihe zum Ersten Weltkrieg
Münchner Neueste Nachrichten

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: