Münchner Neueste Nachrichten vom 26. Juli 1914:"Serbien wählt Krieg"

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Titel der Münchner Neuesten Nachrichten vom 26. Juli 1914 (Foto: Oliver Das Gupta)

Vor 100 Jahren in der Zeitung: Österreich-Ungarn bereitet offen den Krieg gegen Serbien vor - und in Deutschland bricht Jubel aus. Auf den Straßen von Berlin und München feiern Tausende. Dass aus dem Militärschlag der Erste Weltkrieg erwächst, deutet sich in der Reaktion Russlands an.

Von Oliver Das Gupta

Zeitungmacher haben 1914 wie 2014 manchmal ein besonders großes Problem. Dann, wenn nach Redaktionsschluss die Ausgabe gedruckt wird und plötzlich etwas Grundlegendes passiert. Die Nachricht findet dann nicht mehr Eingang in die Print-Ausgabe. Und die frische Zeitung wirkt plötzlich wie Altpapier.

Vor 100 Jahren ist das der Fall. Am Abend des 25. Juli platzt eine Nachrichtenbombe - nach Redaktionsschluss für die Abendausgabe. Erst am nächsten Tag ist nachlesbar, was Europa damals erschüttert.

Am nächsten Tag heißt es über den Vorabend: Telefonisch sei der Redaktion der Münchner Neuesten Nachrichten um 20.30 Uhr durchgegeben worden, wie die serbische Regierung auf das Ultimatum von Österreich-Ungarn ( hier mehr dazu) reagiert habe (oder besser gesagt: wie Wien das weitgehende Einlenken Belgrads auf an sich unannehmbare Forderungen bewertet): "Serbiens Erklärung ungenügend, der österreichische Gesandte von Belgrad abgereist".

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Damit ist klar: Es gibt Krieg. Oder wie die SZ-Vorgängerin im Sinne Österreichs titelt: "Serbien wählt den Krieg!" Dazu pflastern die Münchner Journalisten die Titelseite und eine weitere halbe Seite voll mit allen damals verfügbaren Informationen zu dem eskalierenden Konflikt auf dem Balkan, der ein paar Tage später zum Ersten Weltkrieg auswachsen würde. Im Einzelnen sind es folgende Punkte:

  • Die serbische Regierung habe unter dem Vorsitz des Kronprinzen in Belgrad getagt und beschlossen, dass die vollständige Annahme der Forderungen Wiens nicht akzeptabel sei. Auch die serbischen Oppositionsparteien hätten vor einem solchen Schritt gewarnt, der die "Würde des Staates" schmälere.
  • Der serbische Ministerpräsident Nikola Pašić habe die Antwort auf Wiens Ultimatum in der österreichisch-ungarischen Gesandtschaft dem Botschafter überreicht. Austrias Vertreter Wladimir Giesl von Gieslingen habe sofort erklärt, dass die Zugeständnisse nicht ausreichten. Er sei daraufhin mit seiner Familie abgereist.
  • Serbien hat die Mobilmachung seiner gesamten Armee beschlossen.
  • Österreich-Ungarn mobilisiert ebenso seine Streitkräfte. Über das Territorium der Donau-Monarchie wird der Ausnahmezustand erklärt, Grundrechte eingeschränkt und die Presse stark zensiert.
  • Österreichs Kaiser Franz Josef I. urlaubt in Ischl. Der Monarch zeige "größte Entschlossenheit und Kaltblütigkeit" und habe die Nachricht aus Belgrad "in voller Ruhe" entgegengenommen.
  • Ganz offen schreibt die Zeitung, wie in Ischl die Formalitäten des Gewaltausbruchs erledigt werden: "Der Minister des Äußern Graf Berchtold und der Kriegsminister Krobatin erschienen um 3/4 8 Uhr beim Kaiser. Wie verlautet, unterbreiteten sie dem Monarchen den Entwurf der Kriegserklärung und des an die Völker (des österreichischen Riesenreiches) gerichtetes Manifestes zu Genehmigung".
  • Die Reaktion der Bevölkerung im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn wird ausführlich beschrieben: In Wien herrsche "beispielloses Leben" auf den Straßen, der "Gedanke an den Krieg mit Serbien" sei "außerordentlich populär". In Krakau ziehen Studenten durch die Straßen und singen "nationale Lieder" und schreien "Hochrufe auf den Krieg". In Lemberg spielen sich ähnliche Szenen ab, es werden "Schmährufe" gegen Serbien und Russland vermerkt. In Innsbruck "herrscht unbeschreibliche Kriegsbegeisterung", es ertönt Marschmusik, die Tiroler singen die "Wacht am Rhein".
  • Wie sich Berlin offiziell äußert, ist der Zeitung noch nicht zu entnehmen. Aber es wird folgendes vermutet: "Die Haltung Deutschlands" müsse sein, "die Einmischung" weiterer Staaten in den Konflikt zu verhindern. Falls sich eine dritte Macht in den österreichisch-serbischen Konflikt einschalten sollte, werde aber das Reich "an der Seite" Wiens sein, heißt es unter einer kurios anmutenden Bezugnahme auf französische Medien.
  • In Berlin und München gehen sofort nach Bekanntgabe der Entscheidung in Belgrad die Menschen auf die Straßen - und feiern das bevorstehende Blutvergießen. Allerdings sind es - im Vergleich zur Gesamtbevölkerung der Hauptstadt - nicht so viele Kriegsbegeisterte: In Berlin stehen 4000 Männer vor der Österreichischen Botschaft und singen "Deutschland, Deutschland über alles".
  • Es habe am Mittag zuvor Entspannungsgerüchte gegeben, heißt es. Angeblich sei Belgrad zum vollständigen Einlenken bereit gewesen, was in Wien (und wohl auch in München) "nur Missvergnügen" erweckt habe. Man glaube, diese Gerüchte seien auf ein "Börsenmanöver" des serbischen Finanzministeriums zurückzuführen.
  • Großbritanniens Presse nennt Österreichs Ultimatum "zu drastisch". Ansonsten formulieren die Londoner Blätter vorsichtig. Sie wollen nach Ansicht der Münchner Neuesten Nachrichten alles vermeiden, "was Öl ins Feuer gießen könnte".
  • In Russland kritisiert die liberale Zeitung Rjetsch die eigene Regierung für die "Ermunterung Serbiens". Weitblickend warnt das russische Blatt vor einem Dominoeffekt (der dann ja genauso kommen sollte): Die einzige Möglichkeit für Russland, Frankreich und Großbritannien "eine Hineinziehung in den Konflikt zu vermeiden, bleibt die Lokalisierung der serbischen Frage". Andere russische Zeitungen schreiben, dass Russland an der Seite Serbiens stünde. "Wenn ein Krieg komme, werde das ganze russische Volk daran teilnehmen". Die Regierung des Zaren sei mit ihm zusammengekommen, mehrere Kabinettsmitglieder hätten "energisch über die volle Bereitschaft Russlands" gesprochen - die Bereitschaft, in den Krieg zu ziehen.
  • In Berlin stemmt sich die SPD gegen den Krieg. Im Parteiblatt Vorwärts ist ein Aufruf abgedruckt, in dem das österreichische Proletariat zum Protest aufruft. Für den kommenden Dienstag sei auch eine Massenversammlung in Berlin geplant "unter der Tagesordnung: Nieder mit dem Krieg."

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Hastig muss es zugegangen sein in der Redaktion in der Sendlinger Straße bei der Produktion. So hastig, dass die SZ-Vorgängerzeitung auf der Titelseite dreimal den Abbruch der Beziehungen zwischen Österreich und Serbien schildert.

In der Sendlinger Straße, in der auch später die Süddeutsche Zeitung ihren Sitz haben sollte, stehen Hunderte vor der Redaktion, um Informationshappen aufzuschnappen. In einer kleinen Lokalreportage beschreibt ein Autor mit den Initialen "H.R.", wie in München die Nachricht von der Eskalation auf dem Balkan aufgenommen wird. Auch hier schreien die Leute ihre Freude über den Krieg heraus. Einige ziehen zum Vertreter Österreichs in Bayern, dann zum Wittelsbacher Palais, um den bayerischen König zu feiern. Doch Ludwig III. ist in Leutstetten.

Dass dem Autor mulmig ist und er sich wohl nicht anstecken lässt von dem Jubel, zeigt er in einigen Formulierungen und vor allem durch die Überschrift, die nur aus einem Wort besteht: "Kriegssorgen".

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