Süddeutsche Zeitung

Münchner Abkommen 1938:Frieden für unsere Zeit

Was aus der Geschichte gelernt werden kann, lässt sich nicht ein für alle Male entscheiden: Vom ewigen Dilemma des Appeasements.

Gustav Seibt

Es war unvermeidlich, dass nach den jüngsten Kriegsereignissen in Georgien die Erinnerung an "München" und die Politik des "Appeasements" wieder aufkommen musste.

"München", das ist seit nunmehr 70 Jahren, seit in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1938 in einem Abkommen zwischen Deutschland, England, Frankreich und Italien die Zerstückelung der Tschechoslowakei besiegelt wurde, die Chiffre für eine der schwersten politisch-moralischen Niederlagen, die von demokratischen Nationen des Westens je hingenommen wurde; und zwar nicht nur aus Schwäche, sondern aus durchaus ehrenhaften, nämlich pazifistischen Motiven.

Um einen Weltkrieg zu vermeiden, der dann ein Jahr später doch geführt werden musste, fügten sich die Siegermächte des Ersten Weltkriegs in die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete an das Dritte Reich Hitlers und damit in die Amputierung eines Staates, der im Versailler Friedensvertrag von 1919 geschaffen worden war und der als Völkerbundsmitglied jeden Anspruch auf territoriale Integrität gehabt hätte.

Ein fast machtloser demokratischer Staat wurde in einem so feigen wie zynischen Kalkül auf dem Altar irregeleiteter Friedenspolitik geopfert, weil vor allem Großbritannien keinerlei Neigung zeigte, für "dieses kleine Land, von dem wir so wenig wissen", wie es damals hieß, zu den Waffen zu greifen.

"Frieden für unsere Zeit"

"München" aber war, so hat es Henry Kissinger in seinem großen Buch zur Diplomatiegeschichte der Neuzeit formuliert, mehr als eine Kapitulation, nämlich "eine Geisteshaltung und eine fast unvermeidliche Folge des von den demokratischen Staaten unternommenen Versuchs, einen geopolitisch mit schweren Mängeln behafteten Vertrag" - damit ist die Versailler Friedensordnung gemeint - "mittels Gerede über kollektive Sicherheit und Selbstbestimmungsrecht aufrechtzuerhalten."

Das Münchner Abkommen über die Tschechoslowakei war nur der Abschluss jener die dreißiger Jahre beherrschenden Politik der Beschwichtigung gegenüber Hitler, die sich schon zuvor in drei spektakulären Schritten vollzogen hatte: erst in der Duldung der deutschen Wiederaufrüstung seit 1933, dann in der fehlenden Antwort auf die deutsche Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands 1936, zuletzt im Hinnehmen des Anschlusses von Österreich an Deutschland im März 1938.

Neville Chamberlain, der englische Premierminister, der, aus München zurückkehrend, vom "Frieden für unsere Zeit" sprach, wurde zur Ikone der Verächtlichkeit solchen Appeasements.

Es gibt wenige geschichtliche Erfahrungen, die so dauerhafte Spuren im Gedächtnis der diplomatischen Eliten des Westens hinterlassen haben. Schon ein Jahrzehnt später wurde in der von George F. Kennan geprägten Maxime des "Containment", der "Eindämmung", ein Gegenbegriff gefunden, der den 40 Jahren des Kalten Kriegs die Richtschnur gab, nur phasenweise unterbrochen vom Konzept der Entspannung.

Die Analogie zu den georgischen Vorgängen vom August 2008 liegt nicht nur in den äußeren Verhältnissen - auf der einen Seite eine autoritäre Großmacht, auf der anderen ein demokratischer Kleinstaat -, sondern auch in den Motiven des Konflikts: Die aggressive Großmacht findet ihre Vorwände zum gewaltsamen Eingreifen in den Minderheitenproblemen des machtlosen Nachbarn.

Auch Georgien ist ein kleines Land, von dem der Westen bisher wenig wusste; sollte es so geopfert werden wie die Tschechoslowakei 1938? Die Frage stellen, heißt sie verneinen. Appeasement ist immer von Übel, das ist die Lehre aus München.

Auf der nächsten Seite: die Beschwichtigungspolitik der dreißiger Jahre.

Allerdings müssen zur gerechten Beurteilung der westeuropäischen Beschwichtigungspolitik in den dreißiger Jahren drei Strukturprobleme berücksichtigt werden, die der Versailler Vertrag von 1919 geschaffen hatte. Erstens hatte er langfristig die strategische Stellung Deutschlands in Europa nicht geschwächt, sondern gestärkt: Eine Großmacht fand an ihrer Ostgrenze nur noch Klein- und Mittelstaaten, nämlich die aus den Erbmassen des Zarenreichs und Österreichs entstandenen Länder.

So wiederholte sich die Konstellation von 1648, als Frankreich im Westfälischen Frieden nur noch mit einem zersplitterten Deutschland zu tun hatte - die wichtigste Voraussetzung für seinen Aufstieg zur europäischen Hegemonie zwischen Ludwig XIV. und Napoleon.

Dysfunktional, unausführbar und moralisch inakzeptabel

Zweitens aber hatte man in Versailles diese gefährliche Konstellation durch denkbar harte Friedensbedingungen für Deutschland auszugleichen versucht. So bürdete man ihm jene gigantischen Reparationslasten auf, die John Maynard Keynes in seiner berühmten Schrift über die wirtschaftlichen Folgen des Friedens sogleich als dysfunktional, nämlich unausführbar und auch moralisch inakzeptabel beschrieben hatte.

Im Übrigen schwächte man damit und mit sinnlosen Demütigungen wie dem Kriegsschuldparagraphen von Anfang an die erste deutsche Demokratie, anstatt sie durch einen ehrenvollen Frieden zu unterstützen.

Und drittens führte man - vor allem auf Drängen der Amerikaner und ihres Präsidenten Woodrow Wilson - mit der Maxime vom Selbstbestimmungsrecht der Völker ein ideologisches Moment in die internationalen Beziehungen ein, das der Versailler Ordnung bald gefährlich wurde.

Harten Frieden aufweichen

Denn da dieses Selbstbestimmungsrecht den deutschsprachigen Bevölkerungen Österreichs, Böhmens und Westpreußens verweigert wurde, um Deutschland nicht zusätzlich zu stärken, stand der Versailler Vertrag bald wieder zur Disposition, und zwar im Namen seiner eigenen Prinzipien.

So verfuhr man 1919 mit Deutschland umgekehrt wie 1815 mit Frankreich nach der Niederlage Napoleons: Ein harter Friede musste bald aufgeweicht werden, während man 1815 nach einem vergleichsweise milden Frieden unnachgiebig auf der Einhaltung aller seiner Bestimmungen bestehen konnte. Als Erstes fielen schon in den zwanziger Jahren, vor allem nach der Wirtschaftskrise von 1929, die Reparationen; danach folgten, nun schon unter Hitler, das Aufrüstungsverbot und die zwangsweise Separierung von Österreich.

So bedeutete das Appeasement der dreißiger Jahre zunächst kaum mehr als die Berichtigung von inneren Widersprüchen des Versailler Vertrages, die vor allem in England frühzeitig scharf gesehen worden waren.

Deutschlands neue geopolitische Lage wurde anerkannt, und jenes Selbstbestimmungsrecht, das in Versailles als hehres Prinzip verkündet worden war, sollte nun nicht nur für Polen oder Tschechen, sondern auch für die Deutschen und Ungarn gelten; der schlecht durchdachte Vertrag brach unter den Aggressionen Hitlers zusammen. Und die kriegsmüden Demokratien des Westens hatten dem wenig entgegenzusetzen.

Auf der nächsten Seite: was aus der Geschichte gelernt werden kann.

Entscheidend wurde dem Westen die Fehleinschätzung Hitlers. Hier war Winston Churchill neben den deutschen Emigranten der eine Beobachter, der die Sache richtig sah. Die leitenden Staatsmänner vor allem Englands aber hofften auf eine letzte Rationalität des deutschen Führers.

Außenpolitik und das nüchterne Abschätzen von Machtverhältnissen wurde durch Motivforschung ersetzt und so "zu einem Teilgebiet der Psychologie" (Kissinger). Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass Hitler die enormen Erfolge, die er ohne Krieg, allein durch Vertragsbrüche, Drohungen, lügenhafte Friedensversprechungen und Berufung auf die Versailler Prinzipien errungen hatte, aufs Spiel setzen könnte.

Erst die Besetzung der "Resttschechei", also eines eindeutig nichtdeutschen Gebietes, im Frühjahr 1939 machte auch den letzten Beschwichtigungspolitikern klar, dass Hitler mehr wollte. Aber nun war es zu spät. Ein neuer Weltkrieg war unvermeidlich geworden.

Es nie mehr so weit kommen lassen

Es nie mehr so weit kommen zu lassen, ist seither ein Grundsatz, der sich in jedem Moment mobilisieren lässt. Trotzdem gehörte "Appeasement", also der diplomatische Ausgleich realer Machtverschiebungen, natürlich immer zu den Instrumenten der internationalen Politik, jedenfalls seit Staaten nicht nur Kriege miteinander führen, sondern auch verhandeln.

Das alte Rom übernahm einen Großteil der hellenistischen Kleinstaaten auf dem Wege des Appeasements dieser unterlegenen Mächte. Der Kalte Krieg war eine Mischung aus Härte und Appeasement, er endete zuletzt durch die Verbindung von Nato-Doppelbeschluss, fortdauernden Abrüstungsangeboten und ziviler Friedensbewegung.

Und so hat der Westen - Europa deutlich klüger als die Nato - ja auch im jüngsten georgischen Fall reagiert. Russland wurde vorerst mit einer Mischung aus Festigkeit und Verhandlungsbereitschaft gestoppt, allerdings um den Preis eines weiteren weltpolitischen Krisenherds. Aber da weder Europa noch die Vereinigten Staaten in der Lage sind, einen Krieg für Georgien zu führen, blieb ein anderer Ausweg gar nicht übrig.

Auch hier ist die Einschätzung des Gegenübers von Wichtigkeit für die Frage, was sich aus den Fehlern der dreißiger Jahre lernen lässt. Weniger der moralische Charakter der russischen Staatsführung steht dabei zur Debatte - über ihn darf man so schlecht denken wie nur möglich -, sondern ihre Rationalität. Und diese ist nicht nur ein psychologisches Problem im Sinne Kissingers; zu fragen ist nach der Natur des heutigen russischen Regimes.

Ein ähnliches Problem stellte sich den Europäern schon gegenüber Napoleon. Als Preußen 1805 vor der Entscheidung stand, ob es sich dem Krieg Österreichs und Russlands gegen den Kaiser der Franzosen anschließen solle, da war die entscheidende Frage, ob man mit Napoleon überhaupt Frieden halten könne.

Ein Mann sagte nein: Friedrich von Gentz, und zwar nicht nur, weil er Napoleon für einen Teufel hielt, sondern weil er sicher war, dass die innere Dynamik seiner auf militärischen Ruhm gegründeten Herrschaft diesem Diktator keine Möglichkeit zum Stillhalten gebe. Gentz erforschte also einen Charakter, aber er stellte auch die Systemfrage. Es ist kein Zufall, dass dieser große politische Schriftsteller in den dreißiger Jahren wiederentdeckt wurde, von Golo Mann.

Was aus der Geschichte gelernt werden kann, lässt sich nicht ein für alle Male entscheiden, nicht einmal in der 1938 in München so eindeutig beantworteten Frage, ob Appeasement richtig oder falsch sei. Die Antwort dürfte sein: Oft ist es richtig, aber in einigen extremen Fällen verzweifelt falsch. Dafür steht die Chiffre "München". Iran ist der nächste Anwendungsfall dieser furchtbaren Problematik.

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Quelle:
SZ vom 30. September 2008/odg
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