NSU-Prozess:Die Richter arbeiten noch an der Urteilsbegründung

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  • Der Grund für die Akribie: Ist in der Urteilsbegründung auch nur ein kleiner formaler Fehler, könnte der BGH das ganze Urteil gegen Beate Zschäpe und ihre vier Mitangeklagten aufheben.
  • Wenn die Richter bis 22. April nicht fertig sind, müsste der Prozess von vorne beginnen. So weit wird es aber wohl nicht kommen.
  • Es wird ein Urteil von Gewicht - auch im wörtlichen Sinne. Juristen sagen, es könnte an die 2000 Seiten haben. Logistisch wird die Zustellung deshalb nicht einfach.

Von Annette Ramelsberger

Bald ist der historische Prozess gegen die rechtsradikale Terrorbande NSU zwei Jahre her. Doch noch immer gibt es kein schriftliches Urteil. Noch immer können die Verteidiger das Urteil nicht beim Bundesgerichtshof (BGH) überprüfen lassen. Noch immer herrscht keine Rechtssicherheit. Denn die fünf Richter des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts München arbeiten noch akribisch an ihrer Urteilsbegründung. Findet der BGH dort auch nur einen kleinen formalen Fehler, könnte den Richtern das ganze Urteil gegen Beate Zschäpe und ihre vier Mitangeklagten um die Ohren fliegen. In München weiß man, was das heißt: Der BGH hob 2002 ein Urteil in einem Mafia-Prozess auf, weil durch eine falsche Formulierung im Protokoll die Rechte des Angeklagten verletzt zu sein schienen.

Vom Tag des mündlichen Urteils am 11. Juli 2018 an hatte das Gericht im NSU-Verfahren genau 93 Wochen Zeit, das schriftliche Urteil zu verfassen. Diese 93 Wochen enden am 22. April. Werden die Richter bis dahin nicht fertig, ist das Urteil hinfällig, der Prozess müsste von vorn beginnen. Die zu lebenslang verurteilte Zschäpe würde auf freien Fuß gesetzt - denn die Verspätung des Gerichts dürfte nicht zu ihren Lasten gehen.

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Doch so weit wird es wohl nicht kommen. Man sieht die Richter des 6. Strafsenats täglich im Gericht, sie arbeiten, das wird dort bestätigt. Der Vorsitzende Richter ist noch dabei, obwohl er längst zum Vizepräsidenten des Bayerischen Obersten Landesgerichts befördert wurde.

Es wird ein Urteil von Gewicht - auch im wörtlichen Sinne. Schon die Anklage der Bundesanwaltschaft umfasste 480 Seiten, das Urteil selbst "könnte schon umfangreich werden", sagt der Gerichtssprecher. Sehr umfangreich sogar. An die 2000 Seiten könnte es haben, sagen Juristen. Dazu kommt ein Konvolut von 6152 Anträgen, die alle während des Prozesses gestellt worden sind. Sie werden dem Protokoll beigefügt. Die längsten umfassten an die 30 Seiten. Selbst wenn man nur von fünf Seiten je Antrag ausgeht, kommt man auf 30 000 Seiten. Um sie zu fassen, sind 60 Aktenordner nötig.

Und das ist nur die Menge für einen einzigen Prozessbeteiligten. Aber von denen gibt es viele: Die fünf Angeklagten, ihre 14 Verteidiger, die mehr als 60 Nebenklagevertreter, die Bundesanwaltschaft: Sie alle bekommen je ein Exemplar des Urteils. Ergibt zusammengerechnet mehr als 750 Umzugskisten.

Angesichts solcher Umfänge machen sich die Prozessbeteiligten Gedanken, wie ihnen das Urteil zugestellt wird. "Vermutlich werden mehrere Lastwagen das Oberlandesgericht München verlassen, voll beladen mit Papier", sagt ein Verteidiger. Oder Gerichtswachtmeister bringen die Akten mit Lieferwagen nach Berlin, Hamburg, Köln, wo die Anwälte sitzen.

Doch die schiere Menge ist die geringste Sorge der Verteidiger. Ihnen geht es vor allem um die kurze Frist, die sie haben, um Tausende Seiten zu prüfen. Statt 93 Wochen wie das Gericht haben sie genau vier Wochen Zeit, um Fehler zu finden und die Revision vorzubereiten. 93 zu vier - ein Ungleichgewicht, das bei diesem historischen Prozess besonders deutlich wird.

© SZ vom 07.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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