Moskau:Wie Russland sich die Geschichte zurechtbiegt

Rote Soldaten Ausstellung Russische Geschichte Moskau

Europa im Alleingang befreit: Ein Plakat mit Darstellungen sowjetischer Soldaten in der Ausstellung in Moskau.

(Foto: Antonie Rietzschel)

2,5 Millionen Tote im Gulag? Nicht so schlimm. Stalin? Ein guter Mensch. Den Zweiten Weltkrieg? Hat die Sowjetunion ganz allein gewonnen. Eine Ausstellung in Moskau erteilt eine russische Geschichtsstunde.

Von Antonie Rietzschel, Moskau

Das Grauen versteckt sich in einer kleiner Seitennische. Auf einer Landkarte sind die sowjetischen Gulags eingezeichnet. Ein wichtiger Bestandteil von Stalins Terrorregime. Russische Historiker schätzen, dass 2,5 Millionen Menschen dort umkamen, hinzu kommen rund 800.000 Sowjetbürger, die bei den "Säuberungen" erschossen wurden. "Doch das ist nichts im Vergleich zu 20 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg", sagt ein blonder Mann im grauen Anzug in sein Headset. Ein wirkliches Lagersystem habe es nicht gegeben. Keiner der Zuhörer widerspricht oder fragt nach. Sie sind nicht an der dunklen Vergangenheit ihres Landes interessiert. Das ist ganz im Sinne der Macher einer Ausstellung, die einen Teil der bewegenden Geschichte Russlands behandelt - von 1914 bis Ende 1945.

Es gehe darum zu zeigen, wie das Land trotz großer Rückschläge schließlich einen großen Sieg errungen habe, heißt es in einem Begleittext. Der Titel "Meine Geschichte des 20. Jahrhunderts" ist dabei durchaus treffend, denn die Ausstellung in der Ausstellungshalle Manege hat einen ganz eigenen, einseitigen Blick auf die Historie. Die Nähe des Ausstellungsortes zum Kreml ist kein Zufall. Die russische Regierung war direkt an der Konzipierung beteiligt. Präsident Wladimir Putin hat auch schon vorbeigeschaut.

"Alle, die etwas gegen Stalin hatten, trugen komische Namen"

Die Ausstellung selbst hat bombastische Ausmaße: Auf 3500 Quadratmetern drängen sich Menschen zwischen riesigen Leinwänden, auf denen Flammen lodern oder Blut spritzt. Wie beim Autoquartett wird verglichen, wer zu Beginn des Ersten Weltkrieges wie viele Panzer hatte, wie viele Soldaten - und wie viele Tote am Ende.

Stalin Ausstellung Russische Geschichte Moskau

Ein ganzer Raum in der Ausstellung ist Stalin gewidmet.

(Foto: Antonie Rietzschel)

Allein mit Stalin beschäftigt sich ein ganzer Raum. Der Ausstellungsführer steht vor einer Wand, an der Zitate zu dem Diktator aufleuchten. "Stalin hat der Welt gezeigt, wie wichtig Russland ist", wird ein Geistlicher zitiert. Ja, es habe einen Kult um Stalin gegeben, aber er sei einfach ein guter Mensch gewesen, heißt es weiter.

Es gibt auch Zitate, die sich gegen den Diktator richten. "Alle, die etwas gegen ihn hatten, trugen komische Namen", kanzelt der Ausstellungsführer deren Einschätzung ab. Einige Frauen in der Runde kichern. Auch Stalin selbst wird viel zitiert: "Wir hängen der Entwicklung hinterher - wir müssen das innerhalb der nächsten zehn Jahre wieder wettmachen."

Direkt daneben listet eine Tafel die Errungenschaften der dreißiger Jahre auf. "Nirgendwo sonst gab es ein solches Wachstum wie bei uns. Die Russen sind ein strebsames Volk", sagt der Ausstellungsführer. Die Hungersnot in der Ukraine Anfang der dreißiger Jahre, die Säuberungswelle Stalins erwähnt er nur als Randaspekt.

Die meisten Ausstellungsführer sind studierte Historiker

Nächste und wichtigste Station: Zweiter Weltkrieg. Der Ausstellungsführer spricht immer wieder von der "russischen Armee". Dass Männer und Frauen aus allen Sowjetrepubliken kämpften und starben: geschenkt.

An einer Zeitleiste sind die einzelnen Stationen des Krieges abzulesen. Sie endet in einem Feuerwerk: "Die Sowjetunion gewinnt den Zweiten Weltkrieg", steht dabei. "Wir haben damals nicht nur Deutschland vom Faschismus befreit, sondern ganz Europa", erklärt der blonde Mann. Auf Nachfrage wird versichert, dass es sich bei den meisten Ausstellungsführern tatsächlich um studierte Historiker handelt.

Man könne Geschichte nicht neu schreiben, sagte Wladimir Putin Ende 2014. Dennoch hat sich unter seiner Präsidentschaft der Blick auf die Geschichte des Landes dramatisch verändert - es wurde weggelassen, geschönt, umgedeutet zugunsten eines neuen Selbstbewusstseins der Russen. Die Ausstellung ist ein trauriger Höhepunkt dieser Entwicklung.

"Es wird ein positives und glorreiches Bild Russlands konstruiert, um die Menschen zum Patriotismus zu erziehen", sagt die Historikerin Irina Scherbakowa. Im Mittelpunkt der Propaganda steht das Ende des Zweiten Weltkrieges. "Der Krieg soll nicht als eine Tragödie wahrgenommen werden. Der Preis, der für den Sieg gezahlt wurde, spielt keine Rolle. Es geht darum zu zeigen, dass nur ein starker Staat unter starker Führung zum Sieg führen konnte", so Scherbakowa.

Mit Geschichtspolitik will Putin von aktuellen Problemen ablenken

Putin selbst hat die Terrorherrschaft Stalins immer wieder relativiert: "Wer weiß, ob wir den Krieg gewonnen hätten, wenn die damaligen Machthaber nicht so grausam gewesen wären." Der russische Präsident distanziert sich nur dann, wenn es den eigenen Interessen nützt. So kritisierte er, dass die Sowjetunion die Krim der Ukraine überließ. Die Annektierung der Halbinsel begründete er damit, dass sie ursprünglich zu Russland gehört habe.

Geschichte hat bei Putin stets eine große Rolle gespielt. Zu Beginn seiner Amtszeit zählte er Katharina die Große und Peter den Großen zu seinen historischen Vorbildern. Doch in den vergangenen Jahren betreibe der russische Präsident geradezu Geschichtspolitik, sagt Irina Scherbakowa. Damit wolle er von Problemen und fehlenden Lösungen ablenken. Ob Ukraine-Konflikt und die damit einhergehenden Sanktionen gegen Russland oder der Syrienkrieg - als Auslöser allen Übels wird "der Westen" ausgemacht. Europa und die USA werden zum historischen Feind erklärt.

Drei Beispiele:

Historiker, die nicht auf Linie sind, gelten als "extremistisch"

Auch jetzt kämpft Russland praktisch im Alleingang in Syrien gegen den Islamischen Staat, so vermittelt es zumindest die Propaganda zu Hause. Der russische Präsident Wladimir Putin will Deutungshoheit über die Gegenwart, aber auch die Vergangenheit.

Ikone Ausstellung Russische Geschichte Moskau

Am Ausgang warten eine Ikone und zwei Priester auf die Besucher.

(Foto: Antonie Rietzschel)

Deswegen geht die russische Regierung derzeit hart gegen Historiker vor, die nicht auf Linie sind. Sie stuft Texte von Sebastian Stopper als extremistisch ein. Der deutsche Historiker hatte Lügen der sowjetischen Partisanen-Propaganda entlarvt. Im August dieses Jahr verbannte Russland ein Buch des britischen Historikers Antony Beevor aus den Klassenzimmern, das 13 Jahre alt ist. Er hatte darin die Massenvergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee thematisiert.

Geschichte sei wichtig, um aktuelle Entwicklungen, aber auch die Zukunft zu verstehen, heißt es in einem Begleittext zur Ausstellung "Meine Geschichte des 20. Jahrhunderts". Worin liegt die Zukunft Russlands? Auch auf diese Frage gibt die Ausstellung eine Antwort. Am Ende sagt der Ausstellungsführer, früher habe es immer geheißen, man solle konsumieren. Jetzt sei es wieder Zeit, sich Gott zuzuwenden. Draußen warten auch schon eine mit Blumen geschmückte Ikone und zwei Priester. Am Ende ist offenbar alles eine Frage des Glaubens.

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