Der Auftrag von Wladimir Putin an die russische Armee ist klar und deutlich: Am Montag wies der Kremlchef das Verteidigungsministerium an, „den Feind aus unseren Gebieten zu vertreiben und die Grenzen zuverlässig zu sichern“. Eine Zeitvorgabe machte er nicht, womöglich weil der ukrainische Angriff auf russische Gebiete gravierender ist, als es zunächst ausgesehen hatte. Am Donnerstag hat nun auch die Gebietsführung im russischen Belgorod nahe der ukrainischen Grenze den föderalen Ausnahmezustand verhängt.
Die Behörden erklärten, dass infolge „der terroristischen Attacken“ mehrere Menschen getötet und verletzt sowie Wohnhäuser und Objekte der Infrastruktur beschädigt worden seien. Mit dem Ausnahmezustand dürfen nun Preise auf Lebensmittel und andere „unverzichtbare Waren“ nicht mehr erhöht werden. Auch dies berichtete die russische Nachrichtenagentur Interfax: dass der Staat Entschädigungen zahle – angefangen bei 15 000 Rubel (etwa 150 Euro) an materieller Hilfe, bis zu 600 000 Rubel bei mittleren und schweren Verletzungen; Angehörige von Todesopfern erhalten demnach 1,5 Millionen Rubel. Die Lage ist offensichtlich ernst. Ein von Interfax veröffentlichtes Foto zeigt, wie in den Straßen rote Plakate mit Notfallnummern hängen.
Je größer der Gegner gemacht wird, desto leichter ist es, die Probleme zu erklären
Belgorod ist nach dem Oblast Kursk bereits das zweite Gebiet, in dem der Ausnahmezustand verhängt wurde. Außerdem wurde neben Kursk und Belgorod die russische Region Brjansk zum Gebiet von „Antiterroroperationen“ erklärt. Während die Ukraine an ihrer Front im Osten des Landes weiter stark bedrängt wird, setzt sie Russland auf dessen eigenem Gebiet seit Anfang August arg zu. Mehr als 120 000 Menschen mussten in Sicherheit gebracht werden. Putin mutmaßte bei einem Treffen mit Regierungsangehörigen, dass „der Feind“ die Einheit der russischen Gesellschaft zerstören wolle. Und aus russischer Sicht ist klar, dass dieser Feind längst nicht mehr allein die ukrainische Führung ist.
Apti Alaudinow, General und einer der einflussreichsten Männer im russischen Verteidigungsministerium, sagte nach einem Bericht des russischen Senders RTVI: „Die Operation wird unmittelbar vom Kommandostab des Nato-Blocks ausgeführt.“ Die Ukrainer könnten so etwas kaum selbst machen. Alexej Schurawljow, Mitglied im Verteidigungsausschuss der Staatsduma, empfahl als Reaktion auf die ukrainischen Angriffe die Vorbereitung einer Mobilisierungsreserve. „Nicht für den Krieg gegen die Ukraine, sondern für den Widerstand gegen den Westen.“ Je größer der Gegner gemacht wird, desto leichter ist es, die Probleme in den umkämpften eigenen Gebieten der Bevölkerung zu erklären.
Putin selbst bleibt trotz aller Schwierigkeiten in den russischen Grenzregionen zur Ukraine für die Menschen in Russland weitgehend unantastbar. Fragen, Sorgen und Wut der Bevölkerung richten sich in erster Linie gegen Beamte, Führungspersonal in Gebieten und Regionen oder gegen die Armeeführung. Fragen haben etwa die Mütter einiger russischer Wehrdienstleistender. Nach Berichten des russischen unabhängigen Nachrichtenportals Wjorstka sowie der Moscow Times haben mindestens 52 Familien das Verteidigungsministerium um Informationen über ihre Söhne gebeten, die als Wehrdienstleistende in der Armee sind. Eine Mutter namens Oksana Dejewa hat demnach in einer Petition geschrieben: „Wir sind Mütter von Wehrdienstleistenden und wir bitten Sie, diese aus den Kampfzonen zurückzuziehen. Sie haben keine Erfahrung im Militäreinsatz, und es fehlt ihnen an Waffen.“
Putin hatte kurz nach Beginn des Kriegs gegen die Ukraine zugesichert, dass keine Wehrdienstleistenden an Kämpfen teilnehmen würden. Zu unberechenbar schien ihm zu sein, wie sich dies auf die öffentliche Wahrnehmung des Kriegs in der Bevölkerung auswirken könnte. Nicht gerechnet hat er allerdings damit, dass die ukrainischen Streitkräfte die Kampfgebiete auch auf russisches Staatsgebiet verlagern würden. Genau dies ist nun passiert.
Wie es dazu kommen konnte, wird in Russland trotz wachsender Sorgen öffentlich noch eher verhalten kommentiert. Nach russischen Medienberichten, etwa der Kursker Nachrichten, hat Putin seinen Vertrauten und früheren Leibwächter Alexej Djumin auserkoren, eine militärische Antwort auf die ukrainischen Erfolge in Kursk zu finden. Nichts deutet jedenfalls darauf hin, dass der bisherige ukrainische Vormarsch auf russisches Gebiet Putin selbst angelastet wird. Und so viel wird in den kontrollierten Medien gestreut: dass es nur eine Frage der Zeit sei, schon im September vielleicht, „bis die Ordnung wiederhergestellt ist“. Für die meisten Menschen in den elf Zeitzonen Russlands ist diese umkämpfte Gegend ohnehin weit weg.