Moskau: Anschlag auf U-Bahn:Blutbad an der Roten Linie

Mit Moskaus roter U-Bahn-Linie spekulierten die Selbstmord-Attentäterinnen nicht nur auf möglichst viele Opfer. Eine Bombe sollte eine Botschaft gegen die Kaukasus-Politik des Kreml senden.

Frank Nienhuysen, Moskau

Es ist 9.30 Uhr, und einige wissen es offenbar noch nicht. Sie gehen die Treppe hinunter wie immer, drücken ihre Karte an den elektronischen Zähler und laufen durch das Drehkreuz. Als sie am Bahnsteig aus den blechernen Lautsprechern die Durchsagen hören, kehren sie wieder um und rufen mit dem Handy irgendjemanden an.

In der wartenden Metro sitzen nur ein paar Menschen, nichts ist so wie sonst. Nur ein kurzes Stück können sie von hier aus jetzt fahren, weiter kommt keiner mehr, alles ist gesperrt. Eine Frau sagt: "Es ist alles furchtbar, natürlich habe ich Angst, aber irgendwie muss ich ja nach Hause." Station Jugo-Sapadnaja, der Beginn der Roten Linie. Hier stiegen vor einer Stunde die beiden Selbstmord-Attentäterinnen ein.

Sechs Haltestellen sind sie gefahren, bis "Park Kultury", vier weitere sind es bis zur Lubjanka. Eine schöne Linie eigentlich, vorbei an der Universität, vorbei an den Sperlingshügeln, wo die Metro über der Flusswindung der Moskwa kurz an das Tageslicht auftaucht. Um kurz vor acht Uhr explodierte an der Lubjanka die erste Bombe, um 8.40 Uhr am Park Kultury die zweite. Wer auf möglichst viele Opfer aus ist, hat hier die passende Linie gewählt - und die richtige Uhrzeit.

An der Lubjanka ist der Sitz des russischen Inlandsgeheimdienstes, kaum ein klareres Symbol hätten die Täter auswählen können als die Zentrale des FSB, die maßgeblich am Anti-Terror-Kampf im Kaukasus beteiligt ist. Am Park Kultury trifft die Rote Metrolinie auf die Ringlinie. Ein Knotenpunkt. Minutenlang stehen hier morgens die Menschen in einer dichten Traube und warten, dass sie überhaupt auf die Rolltreppe kommen.

Die Attentäterin zögerte wohl bei der Einfahrt noch, bis sich die Türen zur Plattform öffneten, ehe sie sich in die Luft sprengte. Später wurde der abgetrennte Kopf einer jungen Frau gefunden, vermutlich der Terroristin, einer Schachidka, wie die Russen die Selbstmord-Attentäterinnen aus dem Kaukasus nennen. "18 bis 20 Jahre alt, kaukasisches Erscheinungsbild", heißt es. Aber so eng pressen sich die Fahrgäste hier, dass er vielleicht auch einer Passagierin gehören könnte.

Mindestens 38 Tote und Dutzende Verletzte werden gezählt. Rettungshubschrauber kreisen über den Orten der beiden Katastrophen, Männer mit Helmen schleppen in dunkle Säcke eingewickelte Leichen fort, Teile des Verkehrs werden abgeriegelt und umgeleitet, Einsatzfahrzeuge versuchen, mit Sirenengeheul eine Schneise durch die verstopften Straßen zu schlagen. Mit Tränen in der Stimme klagt eine Frau, dass Taxifahrer den gesperrten Metroverkehr ausnutzten und skrupellos den Preis erhöhten. "Wir sind doch alle Russen, wir sind doch ein Volk."

Moskaus größte Schwachstelle

Moskau erlebt wieder einmal einen dieser traurigen Tage, die die Stadt in den vergangenen 15 Jahren schon mehrmals durchmachen musste. Das Drama im Musical Nord-Ost, der Anschlag auf ein Rockkonzert, zwei Selbstmord-Attentäterinnen, die sich vor sechs Jahren Sprengstoffgürtel um den Leib schnallten und in der Metro zündeten. Ein paar Jahre war Ruhe, zumindest in Moskau, nun ist der Terror wieder zurück.

Präsident Dmitrij Medwedjew ordnete verschärfte Sicherheitsmaßnahmen an. Hunderte von Polizisten kontrollieren verstärkt an den Metrostationen der Hauptstadt, verlangen Ausweise, landesweit sind die Sicherheitskräfte in erhöhte Alarmbereitschaft gesetzt, an den Zugbahnhöfen, an den Flughäfen. Russland werde den Kampf gegen den Terrorismus ohne Zögern und bis zum Ende durchführen, sagte der Präsident. Und Ministerpräsident Wladimir Putin erklärte, die Terroristen würden gefangen und vernichtet.

Aber nicht einmal das mächtige Führungsduo kann Sicherheit in Russland garantieren. Und die Metro ist vielleicht die größte aller Schwachstellen. Überwachungskameras haben die beiden mutmaßlichen Mörderinnen erfasst, sie waren in Begleitung von zwei weiteren Frauen mit slawischem Aussehen, nach denen jetzt gesucht wird. Auch ein Mann mit blauer Jacke, Baseballmütze und weißen Turnschuhen wird verdächtigt, an den Taten beteiligt zu sein.

"Der Krieg kommt in die Städte"

Aufklären kann die Technik Attentate vielleicht, aber kaum verhindern. Acht, neun Millionen Menschen fahren allein in Moskau täglich mit der U-Bahn, alle 60 Sekunden rauscht in den Stoßzeiten eine neue Metro an den Bahnsteig heran, an dem in dichten Zweier-, Dreier- oder Viererreihen schon wieder die nächsten Fahrgäste warten. Überfüllt ist die Stadt, und überfordert.

Im Radio geben Sicherheitsexperten kluge Ratschläge. Sie sind gut gemeint; einer sagt, wann auch immer jemand einen Fahrgast irgendwie verdächtig findet, solle er in einen anderen Waggon einsteigen. Aber in welchen? Nach vorn, Richtung Fahrer? Beide Zünder wurden im vorderen, zweiten Waggon gezündet. Und wer ist überhaupt verdächtig? Der mit dem Rucksack? Der mit dem abgeschabten Rollkoffer? Der mit dem Bart? Der Kaukasier? Der Mittelasiate? Viele sind vor allem damit beschäftigt, erst einmal den Betrunkenen aus dem Weg zu gehen. Aber nun wird sich das tiefe Misstrauen der Russen wohl wieder vor allem gegen die Muslime aus dem Kaukasus wenden.

Wassilij, ein Mann von etwa 50 Jahren, hat sich sein Urteil gebildet. Er fragt: "Meinen Sie nicht auch, in Russland gibt es zu viele Muslime? Ich finde sie gefährlich, sie haben was gegen uns Christen, sie mögen uns nicht." Er selbst sei 30 Jahre mit einer Muslimin verheiratet gewesen, sagt er. Aber letztendlich sei es auch an der Religion gescheitert. "Ich wollte immer gern Ikonen in unserer Wohnung aufhängen, doch sie hat ständig protestiert."

Vor einigen Wochen erst hatte der tschetschenische Untergrundführer Doku Umarow auf einer Internetseite erklärt, "der Krieg kommt in die Städte". Angeblich waren seine Kämpfer auch verantwortlich für den Anschlag auf den Schnellzug von Moskau nach St. Petersburg im November; 26 Menschen starben damals. Aber das hatten die meisten schon wieder verdrängt.

Auch jetzt wird die Schockstarre vermutlich schnell nachlassen, ein paar Tage lang werden weniger Passagiere fahren, dann wird Moskau wieder seinen alten Rhythmus aufnehmen. Die Rote Linie hat dies schon am Montagnachmittag wieder getan. Seit genau 16.33 Uhr, so meldeten die Behörden in ihrer typischen Formulierung, "fährt die Metro wieder im normalen Regime".

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