Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingslager Moria:"Hier schlafen Kinder im Dreck"

Der Münchner SPD-Bundestagsabgeordnete Florian Post war schon vor Monaten für die Aufnahme Tausender Flüchtlinge aus Moria - gegen den Willen seiner Fraktion. Die Bundesregierung müsse nun endlich handeln, fordert er.

Interview von Gabriel Kroher

Florian Post sitzt für den Wahlkreis München Nord im deutschen Bundestag. Dort stimmte er schon Anfang März als einer von nur zwei SPD-Abgeordneten gegen die große Mehrheit seiner Fraktion für die Aufnahme von 5000 Geflüchteten aus Moria. Der Brand im dortigen Lager hat die humanitäre Notlage der Menschen dort weiter verschlimmert. Er fordert, die Bundesregierung solle den aufnahmewilligen Ländern und Kommunen endlich freie Hand lassen.

SZ: Herr Post, wie haben Sie die Entwicklungen in Moria und den Brand dort wahrgenommen?

Florian Post: Am Morgen nach der Nacht des Brandes habe ich der Presse entnommen, was passiert ist. Und auch anschließend den Aufschrei, der zurecht groß war. Aber leider war eine Katastrophe auch erwartbar. Es wurde generell ja häufig gewarnt vor den Risiken dort, es hätte ja auch viele Tote geben können durch die dort inzwischen grassierende Corona-Pandemie. Durch welchen Auslöser es dann letztlich zur Katastrophe kam, ist für mich erst einmal nachrangig. Es wurde ja immer wieder gewarnt und auch im März im Bundestag auf die Lage hingewiesen.

Die Grünen haben damals einen Antrag zur Abstimmung gebracht, Deutschland möge 5000 besonders schutzbedürftige Menschen aus den Lagern in Griechenland aufnehmen. Sie waren nur einer von zwei SPD-Abgeordneten, die dem Antrag zustimmten, der Beschluss fiel deswegen durch.

Es wurde einfach ein Antrag gestellt, den ich für sachrichtig hielt. Und der sich im Übrigen auch mit der Beschlusslage meiner Partei in München deckt. Mein Standpunkt ist, dass wir hier der Humanität die Vorfahrt geben müssen, vor allem wenn es sich um besonders schutzbedürftige Menschen und subsidiär Schutzberechtigte handelt. Es geht nämlich aktuell nicht erstrangig darum, eine europäische Lösung zu suchen, die gibt es momentan nicht. Es geht jetzt darum, ein gutes Beispiel zu geben. Wir reden hier über Menschen! Und es ist Gefahr im Verzug. Oder in einem noch einfacheren Vergleich: Wenn ein Haus brennt zwischen zwei Ortschaften, dann streitet man sich doch nicht über die Zuständigkeit der örtlichen Feuerwehren, sondern es löscht der, der zuerst vor Ort ist.

Sie haben sich bei der Abstimmung also bewusst dazu entschieden, gegen die Mehrheit ihrer Partei zu stimmen und eventuell dafür Gegenwind zu erhalten?

Ja, absolut. Ich bin ja kein kategorischer Dagegen-Stimmer. Aber überall dort, wo ich gegen die Fraktion gestimmt habe, hat die Entwicklung mir recht gegeben. Jedes Abstimmungsverhalten ist individuell und das muss man bei Kritik und Zustimmung dann auch erklären können. Es heißt ja dann immer, das seien eben Koalitionszwänge, dieses Spiel kenne ich auch. Aber wenn Gewissensentscheidungen nur noch Formelkompromisse sein sollen, dann können wir das aus dem Grundgesetz ganz streichen. Was soll dann eine Gewissensentscheidung sein, wenn nicht das? Ich möchte damit aber ausdrücklich nicht in Abrede stellen, dass viele Kolleginnen der Fraktion das so sehen wie ich, davon bin ich sogar überzeugt.

Ihre Vorsitzende Saskia Esken hat nun gefordert, es müsse umgehend Hilfe vor Ort auf den Inseln geleistet werden. Können Sie denn nachvollziehen, dass viele das scheinheilig finden, vor dem Hintergrund eines solchen Abstimmungsergebnisses wie im März?

Ich möchte das Wort "scheinheilig" nicht verwenden. Aber bei den Menschen, die auf der Straße das politische Geschäft und die Mechanismen dieser Spielchen nicht so durchschauen wie Berufspolitiker oder Journalisten, kann ich da zumindest ein Befremden feststellen.

Warum fällt es der Regierung denn so schwer, ein wirklich klares Signal der Humanität zu senden?

Warum es so schwierig ist, kann ich mir nicht erklären. Und da bin ich auch ein Stück weit wütend. Primär gescheitert ist es bei der Abstimmung an der CDU/CSU und weil man hier die Koalitionsdisziplin vorangestellt hat. Und das kann ich nicht verstehen, weil auch die Union ein christliches-humanistisches Menschenbild in ihrer Programmatik hat. Da müsste es doch möglich sein, sich auf eine geringe Anzahl von Menschen zu einigen. Wir reden doch hier nicht von Hunderttausenden, wir reden von 3000 bis 5000 besonders schutzbedürftigen Menschen wie Frauen und Kindern. Und wenn jetzt sogar in NRW, einem CDU-geführten Bundesland, ein Umdenken einsetzt, dann erwarte ich jetzt einen Koalitionsausschuss und eine Sonderkabinettssitzung, wo Fakten geschaffen werden. Hier geht es um Menschenleben, hier schlafen Kinder im Dreck und im Wald. Und das nach den schlimmen Erlebnissen, denen sie ohnehin auf der Flucht ausgesetzt waren. Da kann man sich nicht mehr lange Ping-Pong-Bälle zuspielen, sondern muss jetzt handeln.

Innenmister Seehofer hat schon die Aufnahme von 100-150 unbegleiteten Kinder angekündigt. Reicht das?

Nein, das ist für mich ein durchschaubares Manöver. Die Empörung in der Öffentlichkeit ist groß und es besteht ehrliches Mitgefühl in der Gesellschaft. Da möchte man jetzt Druck rausnehmen und den Rest soll die Zeit erledigen.

Es gab ja auch immer wieder Angebote von SPD-geführten Ländern und Kommunen, mehr Menschen Asyl zu gewähren. Herr Seehofer hat das abgelehnt. Welche Rolle spielen diese "Alleingänge" auch im weiteren Vorgehen?

München war in dieser Hinsicht zum Beispiel immer ein Leuchtturm, ich erinnere nur an die Bilder von September 2015, als zwischendurch Zehntausende an einem Wochenende angekommen sind und München mit städtischem und zivilem Engagement der Lage Herr geworden ist. Da hat man ja gesehen, dass es funktioniert. Der Bund sollte endlich den willigen Kommunen und Ländern die Aufnahme erlauben. Ich würde das auch Herrn Seehofer nicht als Umfallen auslegen, wenn er seine Entscheidung nun zurücknimmt. Die Haltung meiner Partei in dieser Frage ist klar: Wir wollen die Aufnahme von Geflüchteten aus den griechischen Lagern auch mit einer Koalition der Willigen in der EU, solange keine gesamteuropäische Lösung existiert. Wir als SPD müssen nun den Druck auf Innenminister Seehofer und die Kanzlerin erhöhen, denn auch die vorliegende Einigung mit Frankreich zur Aufnahme von 400 Personen ist meiner Meinung nach vollkommen unzureichend angesichts der katastrophalen Lage.

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