Süddeutsche Zeitung

Mordfall Lübcke:Die Volte des Verdächtigen

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Stephan E. hat sein Geständnis widerrufen, den Kasseler Regierungspräsidenten erschossen zu haben. Dies könnte mit seinem neuen Anwalt zu tun haben - und sich zu seinem Nachteil auswirken.

Von Anika Blatz, München

Erst ein Geständnis, dann plötzlich ein Rückzieher. Der mutmaßliche Rechtsextremist Stephan E., der zugegeben hatte, den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen zu haben, hatte am Dienstag mit dem Widerruf seines Mordgeständnisses überrascht. Auf die grundsätzlichen Ermittlungen der Bundesanwaltschaft sowie den Haftbefehl des Bundesgerichtshofs wird diese Volte aber wohl ohne größere Auswirkungen bleiben.

Der mehrfach einschlägig vorbestrafte und in rechten Kreisen gut vernetzte Stephan E., 45, hatte in der vergangenen Woche den Mord an Lübcke gestanden und dabei auch zahlreiche Details zu Tatplanung und -hergang offengelegt. Lübcke war in der Nacht zum 2. Juni auf der Terrasse seines Hauses in Wolfhagen-Istha erschossen worden. Der CDU-Politiker war in rechten Kreisen verhasst, weil er eine humanitäre Aufnahme von Flüchtlingen befürwortete; er hatte auch Morddrohungen erhalten. Stephan E.s Aussagen sind mit dem Widerruf jedoch nicht aus der Welt, sondern weiter verwertbar. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es weitere Indizien gibt, beispielsweise detaillierte Angaben und Täterwissen, die das Geständnis unterstützten. "Ein Geständniswiderruf bringt eher etwas, wenn es sich dabei um ein reines Formalgeständnis gehandelt hat", sagt Ali B. Norouzi, Strafverteidiger und Revisionsexperte sowie Mitglied des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins. Um ein solches würde es sich handeln, wenn der Verdächtige lediglich aussagt, dass er die Tat begangen hat. Stephan E. hat aber schon kenntnisreiche Aussagen zur Tat gemacht - unter anderem zur Lage eines Waffendepots und zu zwei Männern, die ihm bei der Beschaffung der Waffe geholfen haben sollen. Außerdem wurde an der Kleidung Walter Lübckes die DNA des Verdächtigen gefunden. Diese Umstände zu entkräften, dürfte für die Verteidigung schwierig werden - zumal der nun neu für Stephan E. bestellte Pflichtverteidiger Frank Hannig bisher keine Begründung dafür geliefert hat, warum sein Mandant nun zurückrudert.

Damit ein ursprünglich glaubhaft dargelegtes Geständnis bei Widerruf später vom Gericht ernsthaft bezweifelt werden könnte, müsste nachvollziehbar erklärt werden können, warum der Tatverdächtige zunächst eingeräumt hat, die Tat begangen zu haben und woher er sein Wissen hatte. "Die Verteidigung ist dann faktisch in der Bringschuld. Es muss schon nachvollziehbar vorgebracht werden, warum jemand seine Aussagen zurückzieht, damit der Widerruf eine wirkliche Bedeutung hat", sagt Norouzi. Kurzum: Eine bloße Widerrufserklärung entwertet das Geständnis nicht.

Warum also kam es dann aber trotzdem zum Widerruf? Es wird spekuliert, dass der kürzliche Wechsel des Strafverteidigers der Grund dafür ist. Auf Wunsch Stephan E.s wird er nun von Hannig vertreten, der den zuerst als Pflichtverteidiger bestellten Rechtsanwalt Dirk Waldschmidt ablöst. Es ist gut vorstellbar, dass sich Hannig zunächst einen Überblick über den Fall verschaffen will und bis dahin bezüglich seiner Prozessstrategie flexibel bleiben möchte. Diese Vorgehensweise ist ohnehin üblich: "Meist wird dem Tatverdächtigen vom Verteidiger geraten, erst einmal gar nichts zu sagen und die Akteneinsicht abzuwarten", sagt Norouzi. Stephan E. hatte bei seinem Geständnis offenbar ohne anwaltliche Begleitung seines ersten Pflichtverteidigers gehandelt. Der Grund für die Auswechslung des Pflichtverteidigers - zumal ganz am Anfang des Verfahrens - ist nicht bekannt. Möglich erscheint es jedoch, dass Waldschmidt, der bereits mehrfach als Verteidiger rechtsextremer Täter in Erscheinung trat und Vizechef der hessischen NPD war, als Verteidiger ein zu großes Prozessrisiko in den Augen E.s - der weiter in Untersuchungshaft sitzt - darstellte.

Bei der Zumessung der Strafe könnte der Widerruf noch eine sehr wichtige Rolle spielen

Wenngleich der Widerruf an der prozessualen Beweislage sowie an den grundsätzlichen Erwägungen nichts zu ändern vermag, so hat er dennoch Einfluss auf die weiteren Ermittlungen. Denn der Hauptverdächtige hat damit zu verstehen gegeben, dass er mit den Behörden nun nicht mehr zu kooperieren gedenkt. Das könnte auch den Ermittlern ihre Arbeit erschweren.

Das Blatt könnte sich im weiteren Verlauf jedoch auch rasch wieder wenden - dann nämlich, wenn sich nach abgeschlossener Akteneinsicht oder im laufenden Verfahren herauskristallisiert, dass der Geständnisinhalt bei der Beweiswürdigung "vollumfänglich" berücksichtigt werden wird. Die Verteidigung würde bei einer eindeutigen Beweislage dann nämlich gut daran tun, sich die Vorteile, die mit einem Geständnis verbunden sind, zu eigen zu machen. Zwar hätte Stephan E. - wenn es zu einer Mordanklage kommt - dennoch mit lebenslanger Haft zu rechnen. Aber das Geständnis könnte sich positiv auswirken, wenn es um die "besondere Schwere der Schuld" geht, deren Anordnung eine vorzeitige Strafaussetzung nach 15 Jahren unmöglich macht.

Es ist also gut möglich, dass die Verteidigung aus prozesstaktischen Erwägungen zum Ursprung zurückkehrt und im weiteren Verfahrensverlauf den Widerruf vom Widerruf erklärt.

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Quelle:
SZ vom 04.07.2019
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