Das verwackelte Video, nur knapp eine Minute lang, hat es zu trauriger Berühmtheit gebracht: Es zeigt den inzwischen erschossenen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, in einer Bürgerversammlung verteidigt er die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel. "Wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen", sagt er, und ein Raunen geht durch den Saal, Buhrufe, dann lauter Protest.
Aber auf dem Video ist offenbar noch eine zweite Person festgehalten, nämlich Lübckes mutmaßlicher Mörder. Die lauteste Stimme auf dem kurzen Filmausschnitt aus dem Oktober 2015 ist inzwischen offenbar identifiziert, sie gehört demnach Stephan E., einem vorbestraften Rechtsextremisten. "Ich glaub's nicht", ruft er, und "verschwinde". Er ist so deutlich zu hören, dass man glauben könnte, dass Stephan E. selbst das Handy hielt, mit dem gefilmt wurde. Aber das zumindest bestreitet er.
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Vor Jahren schon habe er die Wohnadresse Lübckes gegoogelt, erzählte E. den Ermittlern
Dieser Tatverdächtige, 45 Jahre alt, hat im Polizeipräsidium in Kassel unlängst mehr als acht Stunden lang ein Geständnis abgelegt: Er habe in der Nacht auf den 2. Juni 2019 den CDU-Mann Lübcke aus nächster Nähe erschossen. Dass er auf dem Video von 2015 zu hören ist, hat er selbst ausgesagt. So wie er viele weitere Details über sein angebliches Motiv und die Tat preisgegeben hat. Auch die Namen der beiden Männer, die ihm geholfen hätten, an Waffen zu gelangen. Sie sitzen jetzt ebenfalls in Untersuchungshaft, der Vorwurf lautet auf Beihilfe zum Mord.
Was aber geschah zwischen Stephan E.s wütenden Rufen bei der Bürgerversammlung in Lohfelden und jener Nacht fast vier Jahre später, in der sich E. offenbar auf Lübckes Terrasse schlich und abdrückte? Warum ließ der mutmaßliche Täter so viel Zeit vergehen? Und welche Rolle spielten währenddessen seine mutmaßlichen Komplizen, Markus H. und Elmar J., die beide bislang schweigen?
In Gesprächen mit an Ermittlung und Verfahren beteiligten Personen ist immer wieder eine besondere Vorsicht spürbar. Denn so überraschend wie das Geständnis war, Stephan E. hat es inzwischen widerrufen. Bei einer Vorführung beim Haftrichter des Bundesgerichtshofs soll von Druck die Rede gewesen sein. E.s Anwalt Frank Hannig sagt, er wolle dies nicht kommentieren. Dieser Fall scheint noch für manche unerwartete Wendung gut zu sein.
Immerhin aber beginnt sich mit dem Geständnis E.s und den bisherigen Ermittlungen nach Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR ein erstes Bild zu formen. Er habe sich schon seit Jahren mit der Idee einer solchen Tat beschäftigt, Lübckes Namen gegoogelt und seine Wohnanschrift herausgesucht, berichtete Stephan E. Mindestens zwei Mal, 2017 und 2018, sei er dort hingefahren, mit der Pistole in der Tasche. Und hinterher froh gewesen, die Tat nicht ausgeführt zu haben. Als er Walter Lübcke schließlich doch ermordete, habe er es wortlos getan.
Die Ermittler der Soko "Liemecke", benannt nach einem Fluss in Lübckes Wohnort, und die Bundesanwaltschaft stehen unter Druck, denn überall im Land warten Sicherheitsbehörden auf Antworten: War Stephan E. ein rechtsextremer Schläfer, dem es gelang, die Behörden jahrelang zu täuschen, wie Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang fragt? War er Teil eines bisher unerkannten Netzwerks, gibt es Verbindungen zur NSU-Bande? Oder ist Stephan E. der Typus eines Einzeltäters, der auch anderswo zuschlagen kann? "Nur wenn wir diesen Fall verstehen, können wir weitere solche Taten verhindern", sagt ein hochrangiger Sicherheitsbeamter.
Fünf Schusswaffen, darunter eine Maschinenpistole, will er seit 2014 besorgt haben
Mit einem der beiden mutmaßlichen Komplizen, mit Markus H., verbindet Stephan E. offenbar die Vergangenheit. Die beiden sollen sich bereits aus gemeinsamen Zeiten in einer Neonazi-Kameradschaft kennen, sie waren zusammen am 1. Mai 2009 dabei, als 400 Rechtsextreme eine Gewerkschaftsversammlung in Dortmund attackierten. Markus H. kam damals davon, Stephan E. wurde dafür wegen Landfriedensbruchs zu sieben Monaten auf Bewährung verurteilt. Danach sollen sie sich aus den Augen verloren haben. Stephan E. behauptet, sich damals aus der rechten Szene gelöst zu haben. Er habe ein normales Leben führen wollen, mit Familie und Beruf, hat er den Ermittlern gesagt. Sein früheres Weltbild sei falsch gewesen, das will er erkannt haben.
Durch puren Zufall seien sich die beiden wiederbegegnet, 2013 oder 2014 soll das gewesen sein. Markus H. war Leiharbeiter in Kassel, und er bekam einen Job bei einer Bahntechnikfirma, in der auch Stephan E. angestellt war. Markus H., bei dem Ermittler inzwischen NS-Devotionalien gefunden haben, sei es auch gewesen, der Stephan E. 2015 mit zur Veranstaltung von Walter Lübcke nahm. Später führte er E. bei einem örtlichen Schützenverein ein. E. wurde verantwortlich für das Bogenschießen. Das habe ihm geholfen, Stabilität zu finden. Aber nicht für lange.
2014 entschied Stephan E. sich nach eigenen Angaben erstmals, echte Feuerwaffen zu besorgen. Nicht für einen Mord, behauptet E., sondern um seine Familie vor der angeblich überhandnehmenden Kriminalität von Ausländern zu schützen. Der Staat verliere schließlich die Kontrolle. Stephan E. fragte offenbar seinen Freund Markus H., ob der Schusswaffen besorgen könne. Der soll ihn dann an den gebürtigen Paderborner Elmar J., 64, vermittelt haben, einen Betreiber von Flohmarktständen. Elmar J. beschaffte schließlich ein ganzes Arsenal, darunter auch eine Maschinenpistole des Typs Uzi. Woher diese Waffen stammen und wer aus der rechten Szene noch welche kaufte, das gehört nun zu den drängenden Fragen der Ermittler.
Die Idee für seinen mörderischen Plan sei Stück für Stück gewachsen, behauptet Stephan E. Ausschlaggebend seien Ereignisse wie die Kölner Silvesternacht 2015/16 gewesen, aber auch der islamistische Anschlag im Juli 2016 auf der Strandpromenade in Nizza, bei der mehr als 80 Menschen starben. Das alles habe ihn ungeheuer aufgewühlt, sagt E., immer wieder habe er sich Videos von islamistischen Anschlägen angeschaut. All das habe er auf Walter Lübcke projiziert, der aus seiner Sicht Mitschuld trug an einer aus den Fugen geratenen Welt. Darüber geredet habe er aber mit niemandem, behauptet er. Auch nicht mit Markus H. oder Elmar J.
Stephan E. beteuert, er habe geschwankt und gezögert, er sei unschlüssig gewesen, ob er Walter Lübcke töten sollte. Ein weiterer islamistischer Anschlag, der in Europa fast unbemerkt blieb, habe letztlich den Ausschlag gegeben: Im Dezember 2018 wurden zwei junge Frauen aus Norwegen und Dänemark im Atlas-Gebirge in Marokko erstochen. Stephan E. sagte aus, dies habe ihn erneut aufgewühlt.
In der Untersuchungshaft ist E. nun unter genauer Beobachtung. Er berichtet von Depressionen, bekommt offenbar Medikamente, inzwischen wurde er auf die Krankenabteilung verlegt. Ein psychologischer Gutachter wird wohl hinzugezogen werden. Schon in einem früheren Verfahren vor dem Landgericht Wiesbaden - damals ging es um einen Bombenanschlag auf ein hessisches Flüchtlingsheim - wurde bei E. das Borderline-Syndrom diagnostiziert. Eine Persönlichkeitsstörung, die als psychische Krankheit gilt. Die Diagnose allerdings ist mehr als zwanzig Jahre her.
In seinem Geständnis hat Stephan E. auch angegeben, der Mord an Walter Lübcke tue ihm "unendlich leid", niemand solle für seine Worte sterben müssen, er denke auch daran, was er der Familie Lübckes angetan habe. Das sei "unverzeihlich". Ob diese Aussage das ist, was Juristen ein "glaubwürdiges, umfassendes und von Reue getragenes Geständnis" nennen, wird sich noch zeigen müssen. Vor allem, nachdem E. es zurückgezogen hat.