Süddeutsche Zeitung

Mord im Kleinen Tiergarten:Neue Hinweise von Geheimdiensten

  • Mitten im Kleinen Tiergarten in Berlin wurde im August ein georgischer Tschetschene regelrecht hingerichtet.
  • Der mutmaßliche Mörder wurde schnell gefasst - doch seine Identität ist noch unklar.
  • Die deutschen Geheimdienste gehen nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR nun einem Hinweis eines ausländischen Dienstes auf den wahren Namen des Mannes nach.
  • Klar ist auch, dass es Hintermänner geben muss. Steckt der Kreml dahinter?

Von Florian Flade, Georg Mascolo und Ronen Steinke

Warum wurde der Tschetschene Zelimkhan Khangoshvili mit zwei Schüssen aus einer Pistole mit Schalldämpfer, Typ Glock 26, regelrecht hingerichtet? Manchmal scheint es, als bestünde die Suche nach den Gründen aus zwei völlig getrennten Ermittlungen: In der einen geht es schnell voran, in der anderen ganz langsam.

Die erste betrifft die Frage des Mörders: Ziemlich klar dürfte sein, dass man den Schuldigen gefasst hat, auf frischer Tat sogar. Es ist ein kräftiger Mann, Glatze, 1,76 Meter groß, fast 90 Kilo schwer, mit auffälligen Tätowierungen: Eine Schlange, eine Krone und eine Raubkatze prangen auf seinen Armen.

Mitten in Berlin, im Kleinen Tiergarten im Stadtteil Moabit, keine zehn Autominuten vom Kanzleramt entfernt, sahen am 23. August gegen 11.55 Uhr Jugendliche mit an, wie der Tätowierte auf einem Fahrrad an sein Opfer heranfuhr und es von hinten erschoss. Das Opfer war in seiner Heimat so etwas wie ein Volksheld, er hatte im Tschetschenienkrieg gegen das russische Militär gekämpft und soll eine Kampftruppe angeführt haben. Jetzt lebte er in Berlin als abgelehnter Asylbewerber, angeblich in Angst vor der Rache der Russen.

Klar ist aber auch, dass es Hintermänner geben muss, offenbar handelt es sich um eine Auftragstat. Der mutmaßliche Mörder ist mit einem russischen Pass auf einen falschen Namen eingereist, Vadim Andreevich Sokolov, geboren 1970 im sibirischen Irkutsk. Eine solche Person existiere gar nicht, davon sind die deutschen Geheimdienste überzeugt. Sie gehen nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR einem Hinweis eines ausländischen Dienstes auf den wahren Namen des Mannes nach. Inzwischen werden auch Hinweise geprüft, dass er schon einmal wegen eines Auftragsmordes in Russland im Gefängnis gesessen haben soll.

Es geht um den Verdacht, dass Russland einen Killer nach Berlin geschickt hat. Die US-Regierung streute via Wall Street Journal bereits, davon sei auszugehen. Nach außen demonstriert die Bundesregierung Gelassenheit, das sei Sache der Justiz, sie müsse den Fall aufklären. Tatsächlich hat er bis hinauf ins Kanzleramt höchste Beunruhigung ausgelöst. Sollte der Kreml dahinterstecken, "werden wir sehr, sehr hart reagieren müssen", sagt ein Regierungsmitglied.

Es wäre blamabel, wenn Berlin Russland beschuldigen würde - und dann ist doch nichts dran

Formal führt die Ermittlungen noch die 7. Mordkommission des Berliner Landeskriminalamtes (LKA), wie in einem gewöhnlichen Mord - nicht wie in einer Agentensache oder gar bei Staatsterrorismus. Sollte sich das ändern, wäre der Generalbundesanwalt zuständig, dann würde wohl auch das Bundeskriminalamt einsteigen. Dort hält man sich schon bereit: Bis zu 40 Ermittler sind derzeit auf Stand-by. Aber so weit sei es noch nicht, betonen Ermittler. Ihre Zurückhaltung ist der Sache selbst geschuldet, aber auch der politischen Brisanz.

Bei Lichte betrachtet ist es so: Nicht nur staatliche Stellen könnten die Dienste eines Täters wie "Vadim Sokolov" gekauft haben, und nicht nur staatliche Stellen könnten im korruptionsgeplagten Russland einen Pass auf einen falschen Namen für ihn ausstellen lassen. Auch andere könnten ihn mit Geld ausgestattet haben, mehr als 3000 Euro in bar hatte er bei sich.

Das Fahrrad, das er gleich nach der Tat in der Spree versenkte, war ein Mountainbike der Marke Commencal aus dem Fürstentum Andorra, ein solches Gefährt kostet leicht mehrere Tausend Euro. Interessant ist auch ein E-Scooter, der für die weitere Flucht bereitstand - kein Leihgerät, sondern ein eigenes, edles Fahrzeug: Volteboard, Modell M400 Pro.

Der Mann, der sich "Vadim Sokolov" nennt, angeblich wohnhaft in Sankt Petersburg, hatte sich so zielstrebig durch Europa bewegt, als habe er genaue Instruktionen gehabt. Auffällig ist zum Beispiel, dass er nach seiner Ankunft am Flughafen Paris, vor der Tat, einen Abstecher nach Warschau machte, bis zum 20. August hatte er sich in ein Hotel eingebucht. Und auch nach der Tat wollte er zunächst wieder nach Warschau, so sagte er es selbst, bevor er vor den Ermittlern des LKA weitere Aussagen verweigerte.

Aus Sicht der Ermittler kommen trotzdem verschiedene mögliche Auftraggeber in Betracht. Eine wichtige Überlegung lautet: Womöglich weiß der Killer selbst nicht, wer sie sind. Sie könnten über Mittelsleute mit ihm kommuniziert haben; "Firewall" nennt das ein Ermittler.

Möglich sei auch, dass die wahren Auftraggeber bewusst Spuren nach Moskau legen wollten, um neuen Zwist zwischen Russland und den Europäern zu provozieren. Aus Sicht des Bundesnachrichtendienstes dürfte Moskau derzeit eigentlich kaum an einer Eskalation interessiert sein. Gerade ist eher Entspannung angesagt, eine Lockerung der Russland-Sanktionen steht im Raum, jüngst gab es einen Gefangenenaustausch in der Ukraine. Nicht nur Russlands Gegner auf dem Kaukasus oder anderswo hätten ein Interesse daran, diesen Prozess zu stören. Mancher Beamte schaut gar misstrauisch darauf, wie auffällig sich die USA in der Sache einbringen.

Methoden wie im Kalten Krieg will man auf keinen Fall dulden in Berlin, die Kanzlerin selbst warnte unlängst einmal davor, dass "Regeln und Vereinbarungen an Gültigkeit verlieren". Nun demonstrieren nicht nur tschetschenische Gruppen vor dem Kanzleramt und verlangen eine deutliche Antwort gegen Moskau, auch Politiker aus der Opposition bemängeln bereits, die bisherige Reaktion der Bundesregierung sei zu verzagt, der Grüne Geheimdienstkontrolleur Konstantin von Notz twitterte, das "laute Schweigen" der Bundesregierung irritiere "massiv".

Noch scheint alles möglich: ein krimineller Hintergrund, ein Racheakt - oder ein von Staats wegen angeordneter Mord

Die Kritik kommt nicht zum ersten Mal, nach der Geheimdienst-Entführung eines vietnamesischen Geschäftsmanns am Berliner Tiergarten im Juli 2017 schreckte die Bundesregierung vor der Ausweisung des Botschafters zurück. Auch eine wirklich harte Reaktion auf den Mord an dem saudischen Journalisten Jamal Khashoggi steht bis heute aus. Im März 2018 kam es nach dem Giftanschlag auf den russischen Ex-Agenten Sergej Skripal auf britischem Boden immerhin zur Ausweisung von vier in Berlin stationierten russischen Diplomaten.

Der Name Skripal fällt jetzt oft, wenn in der Regierung über den Fall diskutiert wird. Dass Großbritannien damals sehr schnell Russland für die Tat verantwortlich machte - obwohl es augenscheinlich noch an eindeutigen Belegen fehlte - wurde in Berlin mit Irritation zur Kenntnis genommen.

Der Ausweisung der russischen Diplomaten stimmte dennoch auch die Kanzlerin zu, schließlich hatte Moskau sich auch in anderen Bereichen, etwa der Cyber-Spionage, danebenbenommen. Ein ähnliches Vorgehen will man nun in Berlin vermeiden, es dürfe nicht der Eindruck entstehen, man verurteile Russland vorschnell, heißt es auch in Sicherheitskreisen. Noch sei alles möglich: ein krimineller Hintergrund, ein Racheakt - oder eben ein von Staats wegen angeordneter Mord.

In jedem Fall wäre es blamabel, wenn die Regierung jetzt öffentlich Moskau beschuldigen und bereits Konsequenzen ziehen würde - und dann ließe sich "Vadim Sokolov" später eine Geheimdienst-Anbindung gar nicht nachweisen.

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SZ vom 13.09.2019/gal/cat
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