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Mögliche Reform von EU-Asylrecht:Zwischen Zwang und Freiheit

Lesezeit: 3 min

Der EU-Staat, den ein Flüchtling zuerst betritt, entscheidet über dessen Schicksal. Dieses Prinzip gilt auch im geänderten Asylrecht weiter. Wissenschaftler halten es für gerechter, wenn die Flüchtlinge nach einem Quotensystem verteilt würden. Für manche der 28 EU-Länder hätte dies erhebliche Folgen.

Von Kim-Björn Becker

Seit Jahresanfang wird es angewendet: Das neue europäische Asylrecht, auf das sich die Mitgliedstaaten 2013 nach langem Ringen geeinigt hatten. Es nimmt dem bestehenden Verfahren ein paar Schärfen, das grundsätzliche System aber bleibt bestehen: Für Asylsuchende ist weiter jeweils der EU-Staat zuständig, den der Flüchtling als erstes betritt.

Vor allem Deutschland hat ein alternatives Modell, nach dem jeder Mitgliedstaat einen bestimmten Anteil aller in der EU ankommenden Flüchtlinge zugeteilt bekommen soll, bisher vehement abgelehnt. Man ging davon aus, dass Deutschland vom bestehenden Asylrecht profitiert.

Nun hat der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration erstmals ein Modell vorgelegt, das die Hilfesuchenden nach Quoten auf die Länder verteilt. Es zeigt sich: Das alternative Modell wäre für Deutschland keine nennenswerte Mehrbelastung, nach dem Quotenmodell wären in den Jahren 2008 bis 2012 insgesamt 5000 Flüchtlinge mehr nach Deutschland gekommen als dies tatsächlich der Fall war.

Quote statt Dublin

Solch ein Modell wird schon seit längerem gefordert, zuletzt nach dem Schiffsunglück vor der italienischen Insel Lampedusa, bei dem Anfang Oktober mehr als 300 Flüchtlinge aus Afrika ertrunken sind. Beim Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs Ende Oktober in Brüssel brachte der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) ein Quotenmodell ins Gespräch, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Er sagte, ein "Teil der Lösung des Problems wäre, wenn jedes Land bereit wäre, eine gewisse Quote Flüchtlinge aufzunehmen". Auch der bisherige Menschenrechtsbeauftragte der deutschen Bundesregierung, Markus Löning (FDP), plädierte dafür, die Dublin-Regelung durch ein Quotensystem zu ersetzen.

Der Forschungsbereich des Sachverständigenrats - eine Denkfabrik, die von mehreren großen deutschen Stiftungen getragen wird - hat einen Vorschlag präsentiert, wie diese Aufnahmequoten berechnet werden könnten. Der Anteil der Flüchtlinge, den jedes EU-Land übernehmen soll, ermitteln die Forscher anhand von vier Faktoren: Wirtschaftskraft und Bevölkerung sollen mit jeweils 40 Prozent in die Kalkulation einfließen, Fläche und Arbeitslosigkeit mit je zehn Prozent.

Deutschland müsste mit knapp 16 Prozent aller in Europa registrierten Flüchtlinge den größten Teil aufnehmen, gefolgt von Frankreich mit 13 Prozent und Großbritannien mit 12 Prozent. Auf Estland und Malta entfiele mit jeweils 0,5 Prozent die niedrigste Quote. Die Aufnahmequoten sollen in jedem Jahr neu berechnet werden, um Veränderungen in den Staaten zu berücksichtigen.

Mit ihrem Modell übertragen die Autoren der Studie ein in Deutschland mit Erfolg praktiziertes Konzept auf die europäische Ebene: Nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel wird seit 1949 jedes Jahr aufs Neue ermittelt, welchen Anteil jedes Bundesland an bestimmten Gemeinschaftsaufgaben des Bundes zu tragen hat. Das gilt auch für die Flüchtlinge, die in Deutschland aufgenommen und dann auf die Länder verteilt werden. Das Steueraufkommen in einem Land wird dabei doppelt gewichtet, die Bevölkerungszahl einfach.

20 Länder müssten mehr Flüchtlinge aufnehmen

In der vom Sachverständigenrat vorgelegten Studie für Europa haben die Autoren die ermittelten Quoten mit den tatsächlichen Asylverfahren zwischen 2008 und 2012 verglichen. Demzufolge hätte Schweden in dieser Zeit fast dreimal mehr Flüchtlinge aufgenommen als laut Modell vorgesehen. Weitere sieben Staaten liegen mit ihren Zahlen deutlich über ihrer berechneten Quote, die verbliebenen 20 Länder darunter. Estland, Portugal und Lettland bilden die Schlussgruppe, sie haben jeweils nur etwa halb so viele Asylanträge bearbeitet wie ihnen laut Berechnung zumutbar wäre. Deutschland liegt nur knapp unter seiner ermittelten Quote.

Für den Politikwissenschaftler Jan Schneider, der die Studie mitverfasst hat, soll das Modell einen Beitrag dazu leisten, zunächst eine "faire Belastung" der einzelnen Staaten zu ermitteln. "Ich bin überzeugt, dass sich alle EU-Gremien früher oder später der Frage stellen müssen, wie die Flüchtlinge besser verteilt werden können", sagt er.

Kritik auch von Flüchtlingshilfeorganisationen

Das Modell stößt allerdings auch auf Kritik. Aus unterschiedlichen Gründen haben sich die EU und die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl dagegen ausgesprochen. Die EU-Kommission verweist darauf, dass zum Jahreswechsel die Dublin-III-Verordnung wirksam wurde. Damit werden einige Bereiche der europäischen Flüchtlingspolitik geändert, der grundlegende Verteilungsmechanismus bleibt allerdings bestehen. "Im Moment gibt es keine Pläne, weitere Änderungen vorzunehmen oder ein Quotensystem auf EU-Ebene einzuführen", sagte ein Sprecher der Kommission.

Die Organisation Pro Asyl setzt sich hingegen dafür ein, dass jeder Flüchtling selbst entscheiden kann, in welchem EU-Staat er um Schutz bittet. "Es ist nicht gut, Flüchtlinge in Länder zu zwingen, in die sie nicht wollen oder in denen sie nur geringe Chancen haben", sagt Marei Pelzer, rechtspolitische Referentin bei Pro Asyl. Mit dem Prinzip der Wahlfreiheit könne die EU sich darüber hinaus "die Bürokratie für das sehr aufwendige Dublin-System sparen". Zugleich nannte Pelzer es "vertretbar", dass "Staaten, denen es wirtschaftlich gut geht, mehr Flüchtlinge aufnehmen". Eine Quotenregelung könne allenfalls als Grundlage herangezogen werden, um etwaige Ausgleichszahlungen zwischen wirtschaftlich starken und schwächeren Ländern zu berechnen.

Das Prinzip der freien Wahl sei einer Zuteilung nach Quote aber überlegen, heißt es bei der Organisation. Jan Schneider vom Sachverständigenrat nennt die Vorstellung, dass die EU die Flüchtlinge frei entscheiden ließe, wohin sie wollen dagegen "nicht realisierbar". Das Prinzip der freien Wahl würde darüber hinaus "nicht zu einer gerechteren Verteilung beitragen", sagt Schneider. "Zu befürchten wäre sogar, dass einzelne EU-Staaten die Standards für die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen bewusst unterschreiten, um damit Asylbewerber abzuschrecken."

In den ersten neun Monaten des Jahres 2013 haben mehr als 300 000 Menschen einen Asylantrag in den Mitgliedstaaten der EU gestellt, davon knapp jeder dritte in Deutschland (davon wird wiederum etwa einem Viertel tatsächlich Schutz gewährt). Unlängst hatte sich die Bundesregierung bereit erklärt, noch einmal 5000 Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Syrien aufzunehmen.

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Quelle:
SZ vom 02.01.2014
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