Diplomatie:Der Streit zwischen Indien und Kanada eskaliert weiter

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Besucher beim Diwali, dem hinduistischen Lichterfest, im kanadischen Brampton, am vergangenen Freitag. Tags darauf kam es dort zu Krawallen. (Foto: Arlyn McAdorey/Reuters)

Nach Ausschreitungen in einem Hindu-Tempel in Toronto beschuldigt Indiens Premierminister Modi die kanadische Regierung, nicht genug für die Sicherheit seiner Landsleute zu tun. In Ottawa sieht man das ganz anders.

Von David Pfeifer, Bangkok

Narendra Modi und Justin Trudeau, die Premierminister Indiens und Kanadas, haben beide die Gewalt verurteilt, die am vergangenen Samstag in einem Hindu-Tempel ausgebrochen war. Das ist der einzige gemeinsame Nenner in einem diplomatischen Konflikt zwischen Indien und Kanada, der sich seit über einem Jahr verschärft und der durch diesen Vorfall neu angestachelt wird.

Unklar ist bislang, was genau geschehen ist. Auf Videos, die in sozialen Netzwerken kursieren, ist zu sehen, wie Menschen sich gegenseitig vor dem Tempel in Brampton, einem Vorort von Toronto, verprügeln und mit Fahnenstangen aufeinander einschlagen. In dem Tempel wollten Inderinnen und Inder das Lichterfest Diwali feiern, unter ihnen waren auch in Kanada stationierte Diplomaten. Die örtliche Polizei teilte mit, dass drei Männer wegen der Ausschreitungen strafrechtlich belangt werden. Wegen Störung der öffentlichen Ordnung und Angriffs auf einen Polizeibeamten sowie Angriffs mit einer Waffe und Sachbeschädigung.

800 000 Sikhs leben in Kanada – manche davon sind für Indien Terroristen

Wer womit angefangen hat, wurde von den Behörden bisher nicht bekannt gegeben, die Untersuchungen dauern an. Das lässt Raum für Spekulationen, und die gingen schnell um die Welt, von Delhi nach Toronto und zurück. Denn die Auseinandersetzungen sind nur ein weiterer Vorfall in einem Streit zwischen den beiden Ländern, in dem es eigentlich um die Minderheit der Sikhs geht, die vorwiegend in Indien lebt, in Kanada aber eine große Migrationsgruppe darstellt. In den 1960er-Jahren kamen viele Sikhs nach Kanada, weil das Land im Vergleich zu ihrer Heimat große Sicherheit und Stabilität bot und die Einwanderungsgesetze liberal waren. Heute leben etwa 800 000 Sikhs dort, das sind mehr als zwei Prozent der Bevölkerung.

Unter ihnen sind auch solche, die sich für einen unabhängigen Staat Khalistan stark machen und die in Indien als Terroristen eingestuft werden. Im indischen Bundesstaat Punjab, in dem Sikhs in der Mehrheit sind, kam es in den 1980er-Jahren zu Ausschreitungen, ausgelöst durch die Khalistan-Bewegung. Indiens damalige Premierministerin Indira Gandhi schickte 1984 das Militär, um den Goldenen Tempel in Amritsar zu stürmen, die heiligste Stätte des Sikhismus. Tausende sollen bei diesem Einsatz getötet worden sein. Indira Gandhi wurde wenig später von ihren beiden Sikh-Leibwächtern ermordet. Es gibt also historische Gründe, wieso die indische Regierung empfindlich auf Khalistan-Aktivisten reagiert.

Wer hat angefangen?

Die Frage, die beide Länder allerdings spaltet, ist, ob die indische Regierung einen dieser Aktivisten auf kanadischem Boden hat umbringen lassen. Am 18. Juni des vergangenen Jahres war der Separatistenführer Hardeep Singh Nijjar vor einem Sikh-Kulturzentrum in Surrey, British Columbia, erschossen worden. Der kanadische Premier Justin Trudeau hatte versucht, seinen indischen Kollegen Modi auf dem G 20-Treffen in Delhi auf den Vorfall anzusprechen – ohne Erfolg. Wenig später informierte Trudeau das Parlament in Ottawa darüber, dass es „glaubwürdige Informationen“ gebe, die indische Regierungsbeamte mit der Ermordung Nijjars in Verbindung bringen. In Delhi war man empört.

Seitdem wurden Diplomaten beider Länder aus dem jeweils anderen Land einbestellt und ausgewiesen. Trudeau wurde in den indischen Medien, die nach mehr als zehn Jahren Modi-Regierung weitgehend auf Linie gebracht sind, mit Häme überschüttet. Erst vergangene Woche mussten wieder sechs indische Diplomaten in Kanada ihre Koffer packen. Ottawa beschuldigt die indische Regierung mittlerweile, eine breit angelegte Kampagne gegen die Sikh-Separatisten in Kanada zu führen, wie die Nachrichtenagentur Reuters am Dienstag berichtete. Delhi streitet das ab.

Der indische Premierminister Narendra Modi gab stattdessen am Montag eine scharf formulierte Erklärung über den Social-Media-Kanal X ab: „Ich verurteile den vorsätzlichen Anschlag auf einen Hindu-Tempel in Kanada aufs Schärfste. Genauso entsetzlich sind die feigen Versuche, unsere Diplomaten einzuschüchtern“, schrieb der indische Premierminister. „Wir erwarten von der kanadischen Regierung, dass sie für Gerechtigkeit sorgt und die Rechtsstaatlichkeit aufrechterhält.“ Die indische Regierung reagierte auf die jüngste Ausweisung ihrer Diplomaten mit der Ausweisung von sechs kanadischen Diplomaten.

Die in Nordamerika ansässige Aktivistengruppe „Sikhs for Justice“ wiederum behauptete bereits am Sonntag, dass die Pro-Khalistan-Sikhs friedlich demonstriert hätten und „von einer Gruppe von Indo-Kanadiern gewaltsam angegriffen wurden“. Denn auch Inder sind mit etwa zwei Millionen eine große Migrationsgruppe in Kanada. Wer genau womit angefangen hat, wird eventuell nicht mehr zu klären sein. Genau wie die Frage, wer Hardeep Singh Nijjar im Juni 2023 umgebracht hat.

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