Die italienische Regierung hat lange gewartet. Sie hat zugesehen, wie sich die Lage im zentralen Mittelmeer verschärft, wie immer mehr Flüchtlinge vor der libyschen Küste aus dem Wasser geholt und in ihr Land gebracht werden. In diesem Jahr waren es bisher 85 183, ein Fünftel mehr als im Vorjahreszeitraum.
Nun hat man in Rom die Geduld verloren. Schon beim Brüsseler Gipfel Ende Juni sagte Ministerpräsident Paolo Gentiloni seinen EU-Kollegen, dass die italienischen Kapazitäten bald erschöpft sein könnten. Vergangene Woche folgte eine scharfe Warnung: die Drohung, notfalls Rettungsschiffe mit Flüchtlingen abzuweisen. Der Hilferuf zielte auf die Tagung am Donnerstag im estnischen Tallinn, bei der die EU-Innenminister über die nächsten Schritte in der Flüchtlingskrise nachdenken wollen. Und er zeigt, dass diese Krise leicht wieder außer Kontrolle geraten könnte.
Flüchtlinge im Mittelmeer:Menschenschmuggel ist eine Industrie geworden
Schleuserbanden schicken Zehntausende von Libyen aufs offene Meer. Ohne Helfer an der Küste Italiens wären die Flüchtlinge dem Tod geweiht. Nach der Ankunft rutschen viele in Ausbeutung und Prostitution.
Um eine Eskalation in Tallinn zu verhindern, wurde ein Vorabtreffen vereinbart. Die Minister aus Rom, Berlin, Paris sowie EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos überlegten am Sonntag in Paris, was für Italien getan werden könnte. Am Ende stand ein Katalog von Punkten, der viel guten Willen und wenig Konkretes enthält. Eines jedoch ist neu: Italien soll machen dürfen, was eigentlich Aufgabe der Kommission wäre, nämlich einen "Verhaltenskodex" zu schreiben für die Nichtregierungsorganisationen, die zusammen mit EU-Missionen im Mittelmeer retten.
Die NGOs werden in Rom, aber auch von der EU-Grenzschutzagentur Frontex zunehmend kritisch gesehen. Sie lüden die Flüchtlinge in Italien ab, wie es ihnen gerade passe, lautet die Klage; manche nähmen schon in libyschen Küstengewässern Flüchtlinge an Bord, wiesen den klapprigen Booten gar mit Lichtsignalen den Weg und beförderten damit das Geschäft der Schlepper. In der vergangenen Woche wurden innerhalb von zwei Tagen 8000 Menschen aus dem Wasser geholt, überwiegend Westafrikaner.
Der Kodex, sagte eine Kommissionssprecherin, werde "klare Richtlinien" für alle enthalten, die auf dem Mittelmeer tätig seien, er werde regeln, wie NGOs, EU-Besatzungen und Seenotrettungsstellen miteinander umgehen. Im Wesentlichen gehe es darum, das Seerecht näher auszulegen, das ja die Grundlage aller Operationen bilde. Insofern werde der Kodex kein neues Recht schaffen.
Die Italiener versprechen sich aber offenbar mehr davon als ein paar unverbindliche Empfehlungen. Laut italienischen Medien wollen sie den freiwilligen Rettern Bedingungen diktieren: Sie sollen sich vor dem Landen mit den lokalen Behörden absprechen, sie sollen Beamten erlauben, an Bord nach Menschenschmugglern zu suchen, und sie würden gezwungen, ihre Signalgeräte angeschaltet zu lassen, wenn sie sich der Küste nähern.
Wer dagegen verstößt, soll nach italienischen Vorstellungen gezwungen werden können, die Flüchtlinge wieder an Bord zu nehmen und in das Land zu bringen, unter dessen Flagge er segelt. Ein solches Vorgehen wäre allerdings nicht nur seerechtlich umstritten, es stößt laut EU-Diplomaten auch auf harten Widerstand seitens einiger Mitgliedstaaten. Dasselbe gilt für den italienischen Vorschlag, gerettete Flüchtlinge von vornherein auch nach Spanien, Frankreich oder Malta zu bringen.
Flüchtlinge auf dem Mittelmeer:Meer der Verzweifelten
Unterwegs auf der tödlichsten Fluchtroute der Welt: Ein hoffnungslos überfülltes Schlauchboot gerät vor der Küste Libyens in Seenot - und die Flüchtlinge in Panik.
Rom darf Geld erwarten
Zu diesen Fragen sind in Tallinn harte Diskussionen zu erwarten. Absehbar ist ein EU-typisches Gegengeschäft. Deutschland, Frankreich und andere Länder könnten sich bereit erklären, Italien durch die Aufnahme zusätzlicher Flüchtlinge zu entlasten. Vor allem aber darf Rom Geld erwarten. Auf dem EU-Gipfel sagte Gentiloni, seinem Land wäre schon mit fünf Prozent jener sechs Milliarden Euro geholfen, die die Türkei zur Versorgung der Flüchtlinge erhält. Das wären 300 Millionen.
Der Rest der vorgeschlagenen Maßnahmen folgt dem Prinzip "Mehr vom Bisherigen, und das schneller": Die Rückführung von Flüchtlingen soll verstärkt werden; man will noch intensiver versuchen, Libyens südliche Grenze zu sichern, über die der Hauptstrom der Migranten fließt; und die libysche Küstenwache soll rascher und umfangreicher ausgebildet werden, um Flüchtlinge schon in den eigenen Gewässern aufzugreifen und zurückzuschicken. In dieselbe Richtung zielt der Aktionsplan, den die Kommission am Dienstag vorlegte.
All dem liegt noch ein anderes Prinzip zugrunde: die Absicht, möglichst wenige Migranten nach Europa gelangen zu lassen. Flüchtlingshilfsorganisationen nehmen das zum Anlass für schärfste Kritik. Die EU wolle eine "doppelte Mauer" errichten, erklärte Pro Asyl, das sei "der größte Angriff auf das Asylrecht seit Gründung der EU".