Mitgliederschwund in der SPD:Proletarier aller Länder - wo seid ihr?

Die SPD verliert Mitglieder, weil inzwischen Aufsteiger ihre Klientel bilden - die aber brauchen keine Massenorganisation. Die Kerngruppe - Lehrer, Dezernenten, Referatsleiter - verfügen individuell über Ressourcen, die den früheren Drang zur Kollektivität entbehrlich machen.

Franz Walter

In diesem Sommer 2008, vielleicht schon in wenigen Tagen, dürfte es soweit sein: Die Sozialdemokraten werden weniger Mitglieder zählen als die CDU. Dies markiert einen scharfen historischen Einschnitt.

SPD, Kurt Beck, AP

Der SPD laufen die Mitglieder davon. Parteichef Beck beobachtet einen historischen Einschnitt.

(Foto: Foto: AP)

Noch Anfang der siebziger Jahre hatte die SPD über eine halbe Million Menschen mehr organisiert als die Christdemokratie. Doch bis Ende Mai 2008 ist der SPD-Vorsprung auf ein klägliches Plus von 438 Mitgliedern zusammengeschmolzen; Tendenz: kontinuierlich weiter fallend. Ein langer Abschnitt deutscher Parteiengeschichte und industriegesellschaftlicher Organisationskultur geht zu Ende.

Denn über 140 Jahre galt es als Naturgesetz der Parteiensoziologie, dass die sozialdemokratische Parteifamilie im Vergleich zu ihren bürgerlichen Pendants weit mitgliederstärker ist, hochzentralisiert mit solide ausgebautem Apparat. Bürgerliche Parteien dagegen waren vom Herkommen her auf kleine Zirkel elitärer Honoratioren beschränkt, nur lose verbunden, ohne straffe Verbindlichkeiten.

Entscheidungen bei Cognac und Zigarren

In den bürgerlichen Honoratiorenparteien kamen die angesehenen Bürger der Lokalgesellschaft jeweils vor Wahlen zusammen, einigten sich dann bei Cognac und Zigarren in lockerer Runde auf einen Kandidaten, trafen sich im Laufe der Legislaturperiode nur bei Bedarf. Ein strenges Parteireglement wünschte man nicht. Die Bürger brauchten nicht das disziplinierte Organisationskollektiv. Sie verfügten jeweils über ihre eigenen, individuellen Ressourcen: Bildung, Besitz, Beziehungen.

Die unteren Schichten dagegen konnten sich solcher Ressourcen nicht bedienen. Als Einzelne waren sie machtlos, waren Objekt im Machtraum der bürgerlichen Klasse. Wollten sie Einfluss gewinnen, waren sie nahezu genötigt, sich zusammenzutun, Potenz durch Mitgliederhäufung herzustellen und über Organisation abzusichern.

Allein eine Fülle von Mitgliedern sorgte für ausreichend materielle Beiträge, für die Mobilisierungsfähigkeit einer Partei der industriellen Arbeiter. Die Masse verschaffte denen, die abhängig arbeiteten, Selbstbewusstsein. Die Masse okkupierte, wenn sie sich demonstrativ in Bewegung setzte, den öffentlichen Raum, vermittelte dadurch Stärke nach innen und wirkte bedrohlich auf den Gegner draußen.

Dass diese Masse aber nicht amorph blieb, erratisch und ziellos, dafür trug der sozialistische Funktionär Sorge. Hauptamtlicher Funktionär in der Sozialdemokratie zu werden - das war in dieser Partei über viele Jahrzehnte eine attraktive Karriereperspektive. Denn es war eine der wenige Möglichkeiten des Aufstiegs, die sich Industriearbeitern im ersten Jahrhundert der Industriegesellschaft boten: innerhalb der Organisation, die der Masse dann insgesamt die soziale Emanzipation, gewissermaßen den kollektiven Aufstieg verschaffen sollte.

Der Funktionär, "das Mädchen für alles"

In den bürgerlichen Lebenswelten hingegen war der "Funktionär" verpönt, wenn nicht gar verhasst. Der Funktionär galt als personifizierte Bedrohung von Individualität und Freiheit. Er erschien als der Organisator der rohen Masse, als Strippenzieher des Umsturzes.

Auch die bürgerlichen Honoratiorenparteien von ehedem wandelten sich - aus Furcht vor den roten Bataillonen - mehr und mehr zu Organisationen und Mitgliederparteien. Auch sie brauchten im Zuge dieses Prozesses Parteiangestellte. Doch innerhalb des Bürgertums war das alles andere als eine begehrte Position für Nachwuchsmenschen. Ihnen standen in der Geschäfts- oder Bildungswelt weit reputierlichere Berufe zur Auswahl. Bis in die siebziger Jahre wurden die Parteifunktionäre in bürgerlichen Parteien daher eher scheel angesehen, trugen nicht selten das Stigma der Berufsversager.

In der SPD waren die Funktionäre die Privilegierten. In der Regel genossen sie hohes Ansehen, waren die Vertrauensleute der Partei in den Quartieren kleiner Leute. Nur in schlimmen Krisenzeiten wie den frühen dreißiger Jahren, als Millionen ohne Arbeit waren, kam auch Missgunst auf. Da wurden die festbesoldeten Funktionäre zuweilen als "Bonzen" beschimpft.

Doch insgesamt hätte es ohne diesen Typus weder eine Arbeiterbewegung noch eine starke Sozialdemokratie gegeben. Die Hochzeit der Industrialisierung zeichnete sich schließlich durch eine enorme Mobilität der Arbeitskräfte aus. In den Industrieregionen wohnten im Jahr 1900 nur wenige noch da, wo sie 1890 zunächst gesiedelt hatten.

In diesem dauerhaften Wechsel sorgten allein die Funktionäre des Sozialismus innerhalb ihrer Partei und Bewegung für Konstanz und Kontinuität. Sie hielten den Bestand aufrecht, vermittelten Erfahrungen weiter, auch wenn die Aktivisten und Mitglieder kamen und gingen. Der Funktionär war in diesen Jahrzehnten gleichsam "das Mädchen für alles". Er war der "Kümmerer", eine Mischung aus Prediger, Samariter und Administrator der Organisation.

Die beste Zeit des Funktionärs

Die beste Zeit des Funktionärs lag sicher im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Doch reichte die Bedeutung des Funktionärs für die sozialdemokratische Mitgliederpartei noch bis in die Zeit von Willy Brandt hinein. Johannes Rau hat dies einmal prägnant illustriert.

Wann immer Brandt vor einem Problem stand, habe er - so Rau - die Funktionäre zu sich gerufen: "Und dann hat er dagesessen, tief deprimiert gewirkt und gesagt: Ich habe da ein großes Problem. Dann hat er das Problem geschildert und gefragt: Könnt ihr mir da irgendwie helfen? Was meinst du denn? Willy hatte ihnen immer dieses Gefühl gegeben: Wir müssen mal ganz unter uns was besprechen."

Doch jetzt, im Sommer 2008, ist das längst Geschichte. Die SPD hat im Laufe von nicht einmal zwei Jahrzehnten fast eine halbe Million Mitglieder verloren. Und seit ungefähr zehn Jahren gehören Parteifunktionäre nicht mehr zu denen, die im Zentrum sozialdemokratischen Einflusses stehen. Die SPD ist selbst eine Honoratiorenpartei der durch den Sozialstaat beförderten Aufsteiger geworden.

Ihre Kerngruppe - Lehrer, Dezernenten, Referatsleiter - verfügen inzwischen ebenfalls individuell über Ressourcen, die den früheren Drang zur Kollektivität entbehrlich machen. Eine hohe Zahl an Mitgliedern ist längst nicht mehr das Ziel der sozialdemokratischen Prominenz. Eigenwillige Mitglieder stören eher die Oligarchie. Auch fürchtet sich die Sozialdemokratie von heute wie das Bürgertum von früher längst vor der "Masse", vor Demonstrationen, Streiks, Aufruhr. Schließlich fürchtet die gesellschaftliche Mitte seit jeher die Unberechenbarkeit, das Aufbegehren der unteren Schichten. Und die SPD ist zur Partei dieser - neuen - Mitte geworden.

Franz Walter, 52, ist Professor für Parteienforschung an der Universität Göttingen.

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