Missbrauchsskandal:Schläge, Triebe, Ettal

Tage der bitteren Wahrheit: Immer mehr Opfer sprechen über die sexuellen Übergriffe und das Prügelsystem in dem katholischen Internat Ettal.

Matthias Drobinski und Heiner Effern

Da ist auf einmal der Mann am Telefon und redet und redet, weil es ihm gut tut, sagt er, und weil ihm endlich geglaubt wird, nach mehr als 25 Jahren. Er sagt Sätze wie: "Mein erstes sexuelles Erlebnis war ein Samenerguss von Pater M. auf meinem Rücken." Erzählt vom Prügelsystem des Paters P., dass er die Hose herunterlassen musste und zwischen den Schlägen die Hand des Mannes lange auf der Pospalte liegen blieb. Und wie er vor kurzem im Internet gelesen hat, wie dieser Pater die "Null-Bock-Generation" geißelte. Und davon, wie er seiner Mutter von den Schlägen erzählte und die antwortete, dann werde er die Prügel wohl verdient haben.

Der Mann ist 46 Jahre alt, er hat ein Geschäft und ist in der ganzen Welt unterwegs. Er sagt, er habe viel Wissen und Bildung aus dem Internat und der Schule der Benediktiner in Ettal mitgenommen. Er sagt aber auch: "Ich könnte jeden zweiten Tag weinen, weil mich das so ankotzt." Alles kommt in diesen Tagen der Wahrheit wieder nach oben.

Als Student war er Langstreckenläufer, "weil ich vor meinem Leben weglaufen wollte". Wenn er eine Frau ansprechen wollte, fehlten ihm die Worte. Zwei Semester verließ er sein Zimmer nicht, schmiss das Studium, baute sein Geschäft auf, brach mit 35 Jahren zusammen.

"Wer hat eigentlich Ihre Seele ermordet?" fragte ihn der Therapeut. Da endlich erzählte er, was ihm in Ettal widerfahren war, und begriff, warum er sich immer anderen Menschen unterwürfig angeboten hatte, warum er sich lieber selber geschadet hatte als anderen.

Als sich die Meldungen über Ettal überschlugen, hat er einen Freund angerufen. Sie haben lange über den Mitschüler geredet, der später an einer Überdosis Drogen starb. Eine öffentliche Aufarbeitung unter Druck hält er für viel zu wenig. "Ettal muss den Opfern helfen, auch mit einem Entschädigungsfonds."

Der Mann hat vor drei Wochen seine Lebensgeschichte dem Münchner Rechtsanwalt Thomas Pfister geschickt, der die Missbrauchsfälle in Ettal aufarbeiten soll. Eine Antwort hat er noch nicht erhalten - Pfister ist am Rande der Belastungsfähigkeit. Etwa 50 Rückrufzettel liegen noch auf dem Schreibtisch des Anwalts, etwa 120 Opfer haben sich bei ihm gemeldet. Sein Fazit: Die Übergriffe hatten System, vor allem im Internat, bis es 1991 eine neue Leitung gab.

Dass diese Zustände in Ettal zehn Jahre länger als in anderen Internaten herrschten, hat auch mit einem System aus großer Nähe und luftabschnürender Enge, aus pädagogischem Eifer und Grenzüberschreitung zu tun. Es konnte entstehen und sich so lange halten, weil in Schule, Internat und Kloster unter den Erwachsenen eine Insiderkultur herrschte, ein Atmosphäre des Ungesagten und Unsagbaren.

Viele Patres waren früher selber in der Schule und auf dem Internat gewesen, in der Abtei trafen sie ihre früheren Lehrer als Mitbrüder wieder. Mönche hatten Beziehungen untereinander und mit Frauen, was aus der Sicht der katholische Kirche verboten ist - so hatte jeder jeden in der Hand, keiner schaute so genau hin, was der andere tat; insofern war hier der Zölibat durchaus ein Grund, weshalb der Missbrauch so lange ungeahndet blieb. Pater M. lebte bis zu seinem Tod unmittelbar neben Schule und Internat, als die Vorwürfe gegen ihn intern längst bekannt waren.

Bis vor zwei Wochen ging das Kloster auch davon aus, dass der Fall eines jungen Paters, der 2005 einem Schüler unter den Pullover gefasst hatte, intern geklärt werden könnte - die Schulleitung hatte ihn sofort aus dem Unterricht genommen und zur Begutachtung zu dem forensischen Psychiater Friedemann Pfäfflin geschickt. Über die Interpretation des Gutachtens herrscht bis heute Uneinigkeit.

Das Erzbistum und der Missbrauchsbeauftragte Siegfried Kneißl wurden auch dann nicht informiert, als klar war, dass die Vorwürfe öffentlich werden würden. Das, so heißt es im Münchner Ordinariat, habe das harte Eingreifen von Generalvikar Peter Beer nötig gemacht, der Abt Barnabas Bögle und den Prior und Schulleiter Maurus Kraß zum Rücktritt drängte: "Wir hatten den Eindruck, dass dort eine solche Insiderkultur herrscht, dass das Kloster die Sache nicht alleine lösen kann," heißt es in München.

Das Kloster hat nun um einen Apostolischen Visitator gebeten, der die Klostergemeinschaft begutachten, aber auch klären soll, ob das Erzbistum zurecht in das eigentlich unabhängige Kloster eingegriffen hat. Unter den jetzigen Schülern sei die Solidarität für Bögle und vor allem Kraß groß, heißt es in Ettal.

Und auch viele Ehemalige formieren sich um das Kloster wie eine zweite Mauer. Zum Konventamt am vergangenen Sonntag kamen mehrere hundert Alt-Ettaler - nicht um die Position der Opfer zu stärken, sondern den Ruf Ettals zu schützen.

In geschlossenen Internetforen wird noch deutlicher, wie schwer sich viele Ehemalige mit der Aufarbeitung tun. Der externe Ermittler Pfister wird als "Inqisitor" bezeichnet, man überlegt, ob er für seine deutlichen Äußerungen rechtlich zu belangen sei.

Nicht die mehr als zehn Patres aus Ettal, die missbraucht und geprügelt haben, müssen sich rechtfertigen, sondern diejenigen, die sich als Opfer zu erkennen geben. Nur wenige reagieren so geschockt wie eine frühere Schülerin. Sie schreibt von großartigen Lehrern, von denen sie nun erfährt, dass die am Nachmittag offenbar ins Internat gingen und Kinder prügelten. "Mein Weltbild ist aus den Fugen."

Das zwiegespaltene Gefühl der Ehemaligen drückt auch Thomas Knemeyer aus. " In einem Bericht an die SZ geht es auch um Pater L., den in der 11. Klasse ein Zimmergenosse nachts aus dem Raum warf, weil er sich ihm angetrunken sexuell nähern wollte. Er erzählt von Präfekten, die mit Spickern auf Schüler warfen und sadistische Gefühle auslebten. Und er rechnet mit der Verlogenheit ab, die er in Ettal in den 60er und 70er Jahren erfahren hat: "Nie wird eine Schuld ganz anerkannt, immer wird beschönigt, verniedlicht, verharmlost. Sie schlagen sich jeden Tag dreifach vor die Brust - mea culpa - und tun es dann doch wieder."

Aber Thomas Knemeyer versucht auch klarzumachen, warum viele von Ettal noch immer fasziniert sind. Das Theater, die Musik, den Sport zählt er auf, und die anderen Patres, die Gutherzigen, die Werte vermittelten. "Die Waagschale tendierte zum Guten - trotz allem", schreibt er über seinen Bericht. So erinnern sich offenbar viele: Die Zahl der Anmeldungen für das kommende Schuljahr ist höher als im vergangenen Jahr.

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