Zwölf Jahre sind seit der letzten Papstwahl vergangen. Zwölf Jahre, in denen die katholische Kirche vor allem wegen eines Themas in den Schlagzeilen war: der hunderttausendfach verübten sexualisierten Gewalt katholischer Kleriker an Kindern und Jugendlichen. So groß wie die Weltkirche ist, so flächendeckend sind die Taten vorgekommen. Die Aufarbeitung wird von Land zu Land unterschiedlich ernsthaft vorangetrieben, in manchen Weltregionen wird die Dimension des Missbrauchs noch vollends geleugnet; doch ändert dies nichts daran, dass es sexualisierte Gewalt gab und gibt.
Das war vor zwölf Jahren natürlich auch der Kirche schon bekannt. Doch während des Konklaves, aus dem Jorge Mario Bergoglio als Papst Franziskus hervorging, war es kein Thema. Das ist dieses Mal anders. Bereits zwei Mal, so berichtete es Vatikansprecher Matteo Bruni, sei das Thema in den Generalkongregationen zur Sprache gekommen, jenen Versammlungen der Kardinäle vor Beginn des eigentlichen Konklaves.
Die Philippinen stecken im Hinblick auf die Aufarbeitung „noch im Mittelalter“
Als „besonders wichtig“ beurteilt der an der Villanova University in Pennsylvania lehrende katholische Theologe Massimo Faggioli den Umgang mit dem Thema sexueller Missbrauch, gerade auch im Lagerkampf zwischen Konservativen und Reformern. „Er kann nicht ausschließlich der einen oder der anderen Seite vorgeworfen werden“, sagt Faggioli. „Es ist auch deshalb das heikelste Thema, weil man bei allen anderen Fragen schnell feststellen kann, was ein Kardinal dazu gesagt oder getan hat oder auch nicht. Aber zu klären, was ein Kardinal im Umgang mit Missbrauchsfällen getan hat, das ist sehr viel komplizierter und bedarf gründlicher Untersuchungen. Das ist vor und in einem Konklave ja nicht möglich.“
Dafür haben internationale Betroffenen-Organisationen die möglichen Päpste genau im Blick: Gegen zwei Papabili hat die Organisation Bishopaccountability.org jetzt Vorwürfe erhoben: gegen den italienischen bisherigen Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin und gegen Kardinal Luis Antonio Tagle aus Manila. Parolin habe Unterlagen über Missbrauchstäter unter Verschluss gehalten, sagte Anne Barrett Doyle, die Co-Vorsitzende der Organisation, während einer Pressekonferenz, über die unter anderem die FAZ berichtet hatte.
Die Heimat von Tagle wiederum, die Philippinen, stecken nach den Worten Barrett Doyles im Hinblick auf Missbrauchsaufarbeitung „noch im Mittelalter“. Weder die philippinische Bischofskonferenz noch die einzelnen Diözesen hätten bis heute Richtlinien zum Umgang mit Missbrauchsfällen veröffentlicht. „Wenn Tagle noch nicht mal seine Mitbrüder dazu bringen kann, Richtlinien zu veröffentlichen, was können wir dann von ihm als Papst erwarten?“, fragte Barrett Doyle. Der Vatikan kommentierte die Vorwürfe nicht.
Aktivist Matthias Katsch findet es „empörend“, dass sich jetzt zwei umstrittene Kardinäle offen in Rom zeigen
Bereits vor dem Tod des Papstes, im März, hatte die Betroffenen-Vereinigung „Survivors Networks of those Abused by Priests“, kurz SNAP, kirchenrechtliche Anzeige gegen sechs Kardinäle erstattet. Die Organisation warf ihnen vor, Missbrauchsfälle in der Vergangenheit nicht konsequent genug verfolgt zu haben. Konkret werden genannt Péter Erdő, Kevin Farrell, Víctor Fernández, Mario Grech, Robert Prevost und Luis Tagle. Ob die Anzeige kirchenrechtlich gültig ist, ist aber umstritten.
Die Kardinäle reden also offenbar im Vorkonklave über das Thema Missbrauch – doch wie ernst ist es ihnen wirklich mit der Aufarbeitung? Matthias Katsch, Mitbegründer der deutschen Betroffenen-Initiative „Eckiger Tisch“, kritisiert die Anwesenheit von belasteten Kardinälen in Rom. So sei zum Beispiel Limas ehemaliger Bischof Luis Cipriani vor Ort. Cipriani war selbst wegen Missbrauchs an einem Minderjährigen angezeigt worden, der Fall soll sich 1983 ereignet haben. Er wies alle Vorwürfe zurück, gleichwohl verhängte der Vatikan Strafmaßnahmen gegen ihn: Er musste sein Heimatland Peru verlassen und durfte seine öffentlichen Aufgaben nur eingeschränkt wahrnehmen.
In Rom anwesend sei auch Roger Mahony, der ehemalige Erzbischof von Los Angeles, gegen ihn gibt es Vertuschungsvorwürfe. In einem Vergleich hatten die Erzdiözese Los Angeles und Mahony selbst 2013 zehn Millionen US-Dollar an die Familien von vier Kindern gezahlt. Beide Kardinäle dürfen den Papst nicht mitwählen; dass sie sich nach dem Tod von Franziskus nun offen in Rom zeigen, nennt Matthias Katsch trotzdem „empörend und zugleich entlarvend“.
Aktivisten fordern eine „Null-Toleranz-Politik“ des künftigen Papstes
Das Netzwerk „Ending Clergy Abuse“ (ECA) appelliert in einem offenen Brief an alle Kardinäle, einen Papst zu wählen, der eine „Null-Toleranz-Politik“ verfolge, und zwar weltweit. Während die Kirche in den nördlichen Ländern begonnen habe, Schutzmaßnahmen gegen Missbrauch zu installieren, würden Betroffene im Süden alleingelassen: „Große Regionen in Afrika, Asien, Lateinamerika werden vernachlässigt. Überlebende in Ländern wie Kolumbien, den Philippinen, Indien und darüber hinaus werden immer wieder zum Schweigen gebracht, beschämt und der Gerechtigkeit und Heilung beraubt.“
Bei jeder Art von Missbrauch geht es letztlich um Machtmissbrauch. Drei wesentliche Führungsqualitäten benötige deshalb der neue Papst, fordern Hans Zollner und Peter Beer vom Safeguarding-Institut der Päpstlichen Universität Gregoriana. Sie lauten: „Transparenz, Compliance und Rechenschaftspflicht“, schreiben sie in der Jesuiten-Zeitschrift America Magazine: „Transparenz, weil im Umgang mit dem Thema Missbrauch viel zu lange und viel zu oft Vermeidungsstrategien eine Rolle gespielt haben; Rechenschaftspflicht, angesichts der viel zu selbstverständlich angewandten Vertuschungsmechanismen; und Compliance, wegen der weitgehend unzureichenden und uneinheitlichen Verfolgung von Missbrauchstätern.“