Missbrauch:Vatikan hält Skandal für übertrieben

Verunsicherte Gläubige, ein Erzbischof, der "Aufklärung und Aufarbeitung" fordert - doch was denkt der Vatikan? Das offizielle Sprachrohr schreibt nun: die Kritik sei "übertrieben".

Es ist keine Frage des Glaubens, sondern der Glaubwürdigkeit: Einer Emnid-Umfrage zufolge geben 67 Prozent der deutschen Katholiken an, dass die katholische Kirche durch die jüngsten Aufdeckungen von Missbrauchsfällen an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat, in der Gesamtbevölkerung liegt der Anteil bei 71 Prozent.

Die in der Bild am Sonntag veröffentlichten Zahlen spiegeln sich in der immer lauter werdenden Kritik der Basis: Die Laienbewegung "Wir sind Kirche" hält inzwischen eine Entschuldigung von Papst Benedikt XVI. für überfällig. "Wir sind enttäuscht, dass der Papst bisher kein mitfühlendes Wort für eine Bitte um Vergebung und Versöhnung gefunden hat", sagte "Wir sind Kirche"-Sprecher Christian Weisner am Samstag.

Es gehe niemandem um Rücktrittsforderungen an den Papst. "Aber ein Zeichen der Buße und Umkehr von oberster Stelle ist nötig." Erklärungsbedarf des Papstes sieht die kirchenkritische Reformbewegung auch für dessen Zeit als Münchner Erzbischof von 1977 bis 1982.

Erzbischof Marx: Täter sollen sich "Verantwortung stellen"

Der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Marx, kündigte eine umfassende Aufarbeitung und Gerechtigkeit für die Opfer an. Marx sagte Bild am Sonntag: "Unsere Linie ist: Aufklärung und Aufarbeitung! Die Täter müssen sich ihrer Verantwortung stellen. Den Opfern soll Gerechtigkeit widerfahren. Wir sehen uns darin von Papst Benedikt XVI. bestärkt." Marx fügte hinzu: "Wir wollen uns gemeinsam mit anderen Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen der vor uns liegenden Aufgabe stellen, Missbrauch zu verhindern, die Prävention zu verstärken und die Sorge um das Wohl der Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt zu stellen."

Der Erzbischof zeigte sich bestürzt über die bekanntgewordenen Vorfälle: "Als Volk Gottes erschrecken wir darüber, dass in unserer Mitte diese schrecklichen Vergehen passiert sind. Es gilt, diese schwere Stunde der Kirche als geistliche Herausforderung zu sehen."

Vatikanzeitung: Kritik ist "übertrieben"

In ihrer Sonntagsausgabe setzt sich die Vatikanzeitung Osservatore Romano gegen Angriffe auf die katholische Kirche und ihre Leitung zur Wehr. Es werde mit "Verbissenheit" versucht, Missbrauchsfälle als besonders häufig in der Kirche darzustellen. Dabei sei sie diejenige Institution, die am klarsten gegen sexuellen Missbrauch von Minderjährigen vorgehe, heißt es in einem Gastkommentar von Giuseppe Versaldi auf der Titelseite. Versaldi, Mitglied des vatikanischen Obersten Gerichtshofs der Signatur und Bischof im italienischen Alexandria, verurteilte die Kritik an seiner Kirche im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen als "übertrieben". Die These, das Zölibat sein eine der Ursachen für Pädophilie, wies er ab und betonte: "Es ist erwiesen, dass keinerlei Kausalzusammenhang besteht."

Darüber hinaus sei sexueller Missbrauch, so Versaldi, bei Nichtklerikern und Verheirateten verbreiteter als bei ehelos lebenden Geistlichen. Priester, die pädophile Vergehen begangen hätten, hätten auch schon zuvor Probleme mit ihrer Ehelosigkeit gehabt.

Neue Missbrauchsfälle bekannt

Am Samstag hatten verschiedene Medien neue Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen ans Tageslicht gebracht. Der Spiegel berichtet, dass es im Internat der Regensburger Domspatzen noch bis mindestens 1992 zu sexuellen Übergriffen auf Schüler gekommen sei. Zuvor waren nur Fälle aus den 50er und 60er Jahren bekannt. Ein ehemaliger Internatsschüler berichtete von Vergewaltigungen durch ältere Schüler und Analverkehr zwischen Schülern in der Wohnung eines Präfekten.

Die Mittelbayerische Zeitung berichtet von Übergriffen auf Schüler durch Benediktiner im Internat des Klosters Plankstetten zwischen 1965 und 1967. Der Abt des Klosters bestätigte, dass 1967 ein Bruder des Klosters verwiesen wurde, von den Vorkommnissen höre er aber zum ersten Mal. Ein ehemaliger Schüler berichtete von Übergriffen im Schlafraum, im Sportunterricht, beim Spaziergehen oder beim Duschen. "Fünf oder sechs Buben" sei es genauso ergangen.

Der Donaukurier berichtete von Fällen in Ingolstadt und Eichstätt. Ein ehemaliger Schüler der Wirtschaftsschule sagte dem Blatt, er sei in den 1970er Jahren im Ingolstädter Kolpinghaus von einem Mitarbeiter der Einrichtung sexuell missbraucht worden. Auch im Ingolstädter Canisiuskonvikt und im Eichstätter Studienseminar soll es zu sexuellen Übergriffen auf Schüler gekommen sein.

Auch im Oldenburger Münsterland gibt es nun Verdachtsfälle auf sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche.Die Fälle stammten aus den 50er und 60er Jahren, sagte ein Sprecher des Offizialats im niedersächsischen Vechta am Samstag und bestätigte einen Bericht der Nordwest-Zeitung.

Instrumentalisierung gegen den Papst

Die Süddeutsche Zeitung hatte aufgedeckt, dass während der Amtszeit Joseph Ratzingers als Erzbischof von München und Freising ein wegen Kindesmissbrauchs vorbelasteter Priester in der Gemeindearbeit eingesetzt worden war. Einem Bericht der Mailänder Zeitung Corriere della Sera zufolge hatte Rom mit einer solchen Enthüllung gerechnet.

Kaum habe die Süddeutsche Zeitung Informationen zu dem Vorfall veröffentlicht, sei die Darstellung der Diözese zu den Vorgängen im Internet aufgetaucht "und sofort von Pater Lombardi wiederholt worden", so das Blatt. Im Vatikan spreche man von einer "klaren, gegen den Papst gerichteten Instrumentalisierung" des deutschen Skandals um sexuellen Missbrauch.

Der Vatikan wandte sich entsprechend deutlich gegen direkte Angriffe auf den Papst: "In den letzten Tagen gab es einige, die mit einer gewissen Verbissenheit in Regensburg und in München nach Elementen gesucht haben, um den Heiligen Vater persönlich in die Missbrauchsfragen mit hineinzuziehen", sagte Sprecher Federico Lombardi in Rom. Diese Versuche seien jedoch gescheitert, meinte Lombardi.

Deutsche Politiker streiten über Aufarbeitung

Der Vatikan hat nach eigenen Angaben seit 2001 von rund 3000 Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche aus den vergangenen 50 Jahren erfahren. Das sagte ein Vertreter der päpstlichen Glaubenskongregation, Charles Scicluna, der italienischen Bischofszeitung Avvenire.

Von 2001 bis 2010 habe es rund 3000 Beschwerden über Geistliche gegeben. In rund 60 Prozent der Fälle sei es um gleichgeschlechtliche Kontakte gegangen. Bei 30 Prozent der Beschwerden handelt es sich demnach um heterosexuelle Kontakte und in nur zehn Prozent der Fälle um pädophile Übergriffe Geistlicher.

Indes wird auch die politische Debatte über die Missbrauchsfälle schärfer: Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) forderte mehr Details zu den Skandalen, die in den vergangenen Wochen ans Licht kamen. "Um das Ausmaß der Missbrauchsfälle vollständig erfassen und bewerten zu können, wäre es hilfreich, wenn dazu möglichst umfassendes und belastbares Zahlenmaterial von den betroffenen Institutionen vorgelegt würde", sagte sie der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Kommission zur Aufarbeitung

Die FDP-Politikerin regte eine unabhängige Kommission zur Aufarbeitung der Vorfälle an. Der Blick auf Länder wie Irland oder Amerika zeige, dass unabhängige Experten einen wichtigen Beitrag hierzu leisten könnten. Unterstützung erhielt sie für den Vorschlag von der Grünen-Vorsitzenden Claudia Roth.

Die Grünen-Politikerin Antje Vollmer wertete den Runden Tisch der Regierung zum Kindesmissbrauch ab 23. April in der Welt am Sonntag als Ausdruck von Hilflosigkeit ohne parlamentarische Legitimation. Der Runde Tisch war von Familienministerin Kristina Schröder und Bildungsministerin Annette Schavan (beide CDU) initiiert worden.

Kinderschutzbund-Präsident Heinz Hilgers sagte der Rheinpfalz am Sonntag, mit Runden Tischen lasse sich das Problem nicht lösen. Es werde zu viel über alte Vorfälle debattiert, dabei passierten jährlich 80.000 bis 120.000 Missbrauchsfälle.

Scharfe Kritik erntete die Justizministerin hingegen von SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. "Kindesmissbrauch ist keineswegs auf die katholische Kirche beschränkt", sagte Nahles der FAS. Sie rate Leutheusser-Schnarrenberger, "nicht so zu tun, als müsse nur in der katholischen Kirche nach Schuldigen gesucht werden. Sie wird sonst bald von anderen Einsichten überholt."

Zugleich forderte die überzeugte Katholikin Nahles, es dürfe "keine systematische Vertuschung mehr geben". Kindesmissbrauch sei ein "breites gesellschaftliches Phänomen". Auch wenn viele der jetzt bekannt gewordenen Fälle aus früheren Jahrzehnten stammten, sei sie überzeugt, dass Kindesmissbrauch heute nicht seltener vorkomme als früher.

Auch CSU-Generalsekretär Dobrindt sagte, "rückhaltlose Aufklärung und Transparenz" seien "der einzig richtige Weg, nicht nur für die katholische Kirche". Kindesmissbrauch sei ein "gesamtgesellschaftliches Phänomen", das bisher tabuisiert worden sei: "Wenn wir den Opfern helfen und echte Vorsorge für die Zukunft treffen wollen, dürfen wir den Runden Tisch nicht auf die Kirche verengen."

Dass ein Runder Tisch, der von Familienministerin Kristina Schröder und Bildungsministerin Annette Schavan (beide CDU) initiiert worden war, die Probleme lösen könnte, bezweifelt Kinderschutzbund-Präsident Heinz Hilgers. In der Rheinpfalz am Sonntag sagte er, es werde zu viel über alte Vorfälle debattiert, dabei passierten jährlich 80.000 bis 120.000 Missbrauchsfälle.

Zu einer möglichen Verlängerung der gesetzlichen Verjährungsfristen, wie sie Hilgers fordert, hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zurückhaltend geäußert. "Ich bin nicht grundsätzlich gegen eine Überprüfung der zivil- und strafrechtlichen Verjährungsfrist", sagte sie der Stuttgarter Regionalzeitung Sonntag aktuell, "sie muss sich natürlich einpassen in die Struktur unserer Rechtsordnung."

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