Missbrauch:Schützt die Kinder!

Der Jugendhilfe fehlt es an Personal und Geld - die Folgen sind immer wieder katastrophal. Ein Kindergrundrecht im Grundgesetz könnte da helfen.

Kommentar von Ulrike Heidenreich

Kevin, zwei Jahre alt, von seinem drogensüchtigen Vater schwerst misshandelt, die Polizei findet die Kinderleiche im Kühlschrank. Tayler, ein Jahr, von den Eltern zu Tode gequält. Lara-Mia, neun Monate, verhungert im Gitterbett. Die Fälle haben eines gemeinsam: Jugendämter, Sozialarbeiter, Richter wussten Bescheid - sie hatten das Elend in seiner ganzen Konsequenz nur nicht richtig erkannt. Genauso verhält es sich im Fall des Neunjährigen aus Freiburg, der von seiner Mutter und deren Lebensgefährten, einem verurteilten Sexualstraftäter, zur Vergewaltigung angeboten wurde.

Bei diesem Fall ist viel schiefgelaufen, er ist kompliziert. Auf jeden Fall zwingt er dazu, genauer hinzusehen, mit welchen Widrigkeiten Jugendämter kämpfen: mit einem Wirrwarr an Zuständigkeiten, mit Verunsicherung, und das in Zeiten, in denen ihre Aufgaben ständig schwieriger werden. Es fehlt Personal. An mangelhaften Instrumenten der Jugendhilfe liegt es wohl nicht. Der Fall des Freiburger Jungen, so traurig es ist, aber auch die mögliche Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz erhöhen nun den Druck auf die Politik, Kinder besser zu schützen.

Der Jugendhilfe fehlt es an Personal und Geld - die Folgen sind immer wieder katastrophal

Die Menschen sind sensibilisiert. Man schaut nicht mehr weg. Früher gab es wohl in jedem Dorf eine Familie, von der man wusste, dass der Vater säuft und das Kind missbraucht. Doch es wurde nur geraunt, nicht gehandelt. Heute gehen mehr Menschen zur Polizei. Das ist ein gutes Zeichen. Die Gesellschaft muss es aushalten, dass damit die Zahlen in der Statistik über misshandelte Kinder in Deutschland steigen. Sie tun dies seit Jahren. 2016 gab es mehr als 12 000 Ermittlungs- und Strafverfahren allein wegen sexuellen Kindesmissbrauchs. Dies bringt nur ein wenig Licht ins riesige Dunkelfeld, die Forschung geht davon aus, dass statistisch gesehen in jeder Schulklasse ein bis zwei Kindern Gewalt angetan wird.

Diese neue Aufmerksamkeit und immer mehr Hinweise fordern die Jugendämter aufs Äußerste heraus. Wenn ihnen Verdächtiges in Familien gemeldet wird, müssen sie akribisch nachweisen, ob Kindern dort physische Misshandlung oder psychische Schäden drohen. Immer ist individuelle Prüfung notwendig. Kommt dabei heraus, dass das juristisch genau definierte Kindeswohl in Gefahr ist, geht es Schlag auf Schlag. Die harten Schritte sind: Herausnahme aus den Familien, Inobhutnahme, Entzug des Sorgerechts.

Die Fachkräfte des Jugendamtes bewegen sich in einem Spannungsfeld: Weil es immer wieder unsägliches Versagen mit entsetzlichen Folgen für Kinder gab, setzen sie sich einerseits lieber nicht dem Vorwurf aus, zu lange zugeschaut zu haben. Sie nehmen ein gefährdetes Kind im Zweifel eher gleich mit. Andererseits bekommen sie regelmäßig Rügen vom Bundesverfassungsgericht, weil sie Eltern ohne tragfähige Begründung das Sorgerecht entzogen haben. Auch im Fall des Jungen aus Freiburg hatte das Familiengericht eine längere Herausnahme aus der Familie abgelehnt - mit Hinweis auf die Rechtsprechung in Karlsruhe.

Was fehlt in dieser Misere: das menschliche Moment. Sozialarbeiter oder Familienrichter haben ihre Berufe nicht zufällig gewählt, sie verspüren Empathie und Verantwortung für andere. In der Jobrealität aber können sie sich das nicht leisten. Ihnen fehlt die Zeit, einer Familie auch länger nachzuspüren, in sich hineinzuhören und beim geringsten Verdacht dem richtigen Impuls nachzugeben. Es muss sich ein Mensch voll zuständig fühlen dürfen - und können. Die Suche nach Fehlern im System beginnt bei zu wenig Personal und schlechter Bezahlung. Es fehlen: Wertschätzung und Ausbildung, weil die Aufgaben in der Jugendhilfe immer größer werden. Der Kinderschutzbund hat ausgerechnet, dass die Zahl der Gefährdungen jährlich um acht Prozent steigt - obwohl es in Deutschland immer weniger Kinder gibt. Deswegen dringt Familienministerin Katarina Barley zu Recht auf eine verpflichtende Fortbildung für Richter.

Zum Glück ist es Inhalt des Sondierungspapiers von Union und SPD geworden, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Der erste Satz könnte lauten: "Der Staat schützt die Kinder." Ein Instantprogramm gegen Gewalt ist das natürlich nicht. Ein Kindergrundrecht aber wäre eine berechenbare Basis für eine gute Politik zum Schutz von Kindern. Es wäre ein gewichtiges Argument, wenn es zum Beispiel um die finanzielle Ausstattung von Jugendämtern geht. Ein Grundrecht stärkt jede Verhandlungsposition. Das macht Hoffnung.

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