Süddeutsche Zeitung

Katholische Kirche:Milde im Umgang mit geweihten Männern

Die Missbrauchsgutachten aus München und Köln zeigen, wie Bistumsverantwortliche gegen Beschuldigte mit zweierlei Maß vorgingen: Priester wurden in der Regel geschont, Laien häufig konsequent bestraft. Warum?

Von Annette Zoch

Konsequent und kompromisslos gingen die Verantwortlichen in der Erzdiözese München und Freising gegen Missbrauchstäter vor - wenn es sich nicht um Priester handelte. Das ist ein weiterer, bislang wenig beleuchteter Befund des Münchner Missbrauchsgutachtens. Das Gutachten sah mögliche Hinweise auf Fälle sexualisierter Übergriffe bei 182 Klerikern, genauer gesagt 173 Priestern und neun Diakonen, sowie bei 53 Laien - also Lehrern, Erziehern sowie Pastoral- oder Gemeindereferenten. Dort wurde hingeschaut. Die Täter wurden häufig hart bestraft bis hin zur Kündigung.

Die Gutachter benennen in ihrer Untersuchung 59 Sachverhalte, die insgesamt 53 verdächtige Laien und 62 mutmaßliche Geschädigte betreffen. In keinem einzigen dieser Fälle konnten sie ein relevantes Fehlverhalten der Leitungsverantwortlichen feststellen. Folgerung der Gutachter: Den Laien gegenüber sei stets mit dienst- oder arbeitsrechtlichen Mitteln reagiert worden beziehungsweise seien diese Schritte zumindest sorgfältig und nachvollziehbar geprüft worden.

Bei 16 von 53 beschuldigten Laienmitarbeitern wurde das Dienst- oder Arbeitsverhältnis im Zusammenhang mit der Tat oder mit Verdachtsmomenten beendet. Zum Vergleich: Bei 173 beschuldigten Priestern kam es nur in vier Fällen zu einer vergleichbaren Sanktionierung, nämlich zur Entlassung aus dem Klerikerstand.

Nicht alle Fälle bei der Staatsanwaltschaft gemeldet

In den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz wurde von 2010 an eine Meldepflicht an die Staatsanwaltschaft eingeführt. Hier sehen die Gutachter beim Umgang mit Laienmitarbeitern das einzige Versäumnis: Nicht alle Fälle seien an die Staatsanwaltschaft gemeldet worden. Dem Gutachten zufolge wurden von 2010 bis 2019 sechzehn verdächtige Personen der Erzdiözese bekannt, aber nur fünf Fälle bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. In neun Fällen unterblieb die Meldung, in zwei Fällen hatte die Staatsanwaltschaft bereits unabhängig von der Meldung Kenntnis erlangt.

Auch im Missbrauchsgutachten der Kanzlei Gercke Wollschläger für das Erzbistum Köln sind Laien als Beschuldigte identifiziert, insgesamt 66 Personen gegenüber 127 Klerikern. Auch hier gingen die Vorgesetzten streng vor: "Anders als bei Klerikern wurden Laien in Diensten des Erzbistums Köln häufig aus dem Arbeitsverhältnis entfernt, sobald Vorwürfe sexuellen Missbrauchs gegen sie aufkamen", schreiben die Kölner Gutachter. In keinem der Aktenvorgänge, die ein Fehlverhalten eines Laien zum Gegenstand hatten, sei ein Pflichtenverstoß zu verzeichnen - genauso wie in München: "Hinsichtlich dieser Personengruppe beobachteten die Gutachter regelmäßig konsequente und zügige Reaktionen wie etwa die Kündigung des betreffenden Arbeitnehmers", so die Kölner Anwälte.

Das Berufsbild des Pastoral- oder Gemeindereferenten ist noch vergleichsweise jung, es existiert erst seit Anfang der 70er-Jahre. Das Gros der Tatvorwürfe gegen Laien, nämlich 24, betreffe die Jahre zwischen 2015 bis 2019, sagt Gutachter Martin Pusch von der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung. Bereits von 2010 an sei ein deutlicher Anstieg der Meldungen zu verzeichnen gewesen, aber auch Taten in den 80er-, 90er- und 2000er-Jahren seien rasch verfolgt worden. "Bei Laien war die Bereitschaft, einschneidende Maßnahmen zu ergreifen, insbesondere auch in Gestalt der Beendigung des Anstellungsverhältnisses, deutlich ausgeprägter", sagt Pusch.

"Vogelwilde" Priester unter Kontrolle

Die Kölner Gutachter weisen darauf hin, dass das Verhältnis von Klerikern zu ihrem Arbeitgeber durch besondere Treue- und Fürsorgepflichten gekennzeichnet sei, ähnlich wie zwischen Beamten und dem Staat, und eine einfache arbeitsrechtliche Kündigung ausschließe. Die kirchliche Höchststrafe für einen Priester ist die Rückversetzung in den Laienstand. Dass dies in der Vergangenheit oft nicht vorkam, wurde - wie im Fall des pädophilen Priesters Peter H. - unter anderem damit begründet, dass der Priester sonst "vogelwild" sei und man ihn nicht mehr unter Kontrolle habe. Bei entlassenen Religionslehrern und Pastoralreferenten schien es diese Bedenken aber nicht gegeben zu haben.

Woher kommt also diese Milde mit geweihten Männern? Ein Kernproblem ist das Priesterbild, schreiben schon 2013 die Mitglieder der australischen Royal Commission, eines unabhängigen Gremiums, das Missbrauch in Australien untersucht hatte: Die kirchliche Lehre, dass ein Priester im Moment der Weihe eine Seinsveränderung erlebe, sei ein gefährlicher Bestandteil des Klerikalismus - der Haltung, einen Unterschied zu machen zwischen Geweihten und Nichtgeweihten.

Auch die MHG-Studie von 2018 benennt Klerikalismus als einen zentralen Risikofaktor für sexuellen Missbrauch: "Die Dogmatik eines klerikalen Amtsverständnisses erhebt das Priesterideal über eine Schuldzuweisung oder ein Schuldeingeständnis", heißt es in der Studie. "Dies kann dazu führen, dass die Kirchenraison im Zweifelsfall selbst gegen besseres Wissen durchgehalten wird. Priester, die sexualisierte Gewalt ausüben oder sexuellen Missbrauch begehen, werden von klerikal agierenden Kirchenoberen in erster Linie als Gefährdung der Institution und des klerikalen Systems wahrgenommen und nicht als Gefährdung von Gemeindemitgliedern oder anderen potenziellen Betroffenen." Dies münde in Geheimhaltung und Vertuschung.

Taten von Laien hingegen müssen auf Basis dieser systemimmanenten Logik nicht vertuscht werden, weil sie ja nicht richtig dazugehören, weil sie außerhalb des Priesterstandes stehen. Die Münchner Gutachter schreiben, es dränge sich die Erkenntnis auf, "dass bei identischen, jedenfalls aber vergleichbaren Verfehlungen, namentlich sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen, mit zweierlei Maß gemessen und auch entsprechend sanktioniert wurde".

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