So viel positive Resonanz hat Reinhard Marx wohl schon lange nicht mehr bekommen, zumindest nicht beim Thema Missbrauch. "Respekt!", ruft der eine, "Hochachtung", sagt der nächste. Das ist der Tenor aus dem Kreis von Betroffenen, nachdem der Münchner Kardinal den Bundespräsidenten gebeten hat, ihm nicht das Bundesverdienstkreuz zu verleihen.
Die Auszeichnung sollte Marx an diesem Freitag bekommen, etwa für sein Engagement für Flüchtlinge und gegen Populismus. Kaum war dies publik, wurde Protest laut von Missbrauchsbetroffenen: Solange nicht geklärt sei, ob auch Marx in früheren Jahren Missbrauch nicht konsequent aufgeklärt oder gar vertuscht habe, sei diese Ehrung nicht in Ordnung, hieß es aus Köln und Trier. Daraufhin verzichtete Marx aufs Verdienstkreuz, aus Rücksicht auf Missbrauchsbetroffene, wie er erklärte.
Inzwischen sieht er sich mit konkreten Vorwürfen konfrontiert, sie betreffen seine Zeit in Trier, wo er von 2002 bis Anfang 2008 Bischof war. Christ & Welt, eine Beilage der Zeit, berichtet über den Umgang der Bistumsspitze mit einem Pfarrer, der des Missbrauchs an Minderjährigen beschuldigt wird. Ausführlich wird dargelegt, was Marx 2006 als damals oberster Verantwortlicher im Bistum getan - oder unterlassen - habe. Nachdem Vorwürfe gegen den Pfarrer bistumsintern bekannt waren, habe Marx nicht die nötige kircheninterne Untersuchung veranlasst. Und das, obwohl der Geistliche die Taten bei den Ermittlungsbehörden in weiten Teilen zugegeben habe.
Die Zeit zitiert zwei Kirchenrechtsprofessoren, die Marx Pflichtverletzungen vorwerfen. Sie messen ihn an den kirchlichen Vorgaben, die jüngst im Rahmen des Missbrauchsgutachtens im Bistum Köln erarbeitet wurden. Bernhard Anuth von der Universität Tübingen und Thomas Schüller von der Universität Münster konstatieren: Marx als oberster Verantwortlicher habe es nicht nur unterlassen, kirchenrechtliche Untersuchungen anzustoßen. Er habe auch nicht veranlasst, dass dem Missbrauchsbetroffenen Hilfe angeboten werde und der Beschuldigte eine Therapie mache. Auch habe Marx den Missbrauchsverdacht nicht nach Rom gemeldet und nicht verhindert, dass der Pfarrer weiter Kontakt zu Kindern und Jugendlichen habe.
Die Bistümer Trier, München und Limburg räumen Fehler ein
In einer gemeinsamen Stellungnahme weisen Sprecher der Bistümer Trier, München und Limburg auf die Komplexität des Falles hin, für den im Laufe der Jahre drei heutige Bischöfe zuständig waren: neben Marx auch Stephan Ackermann, nun Bischof in Trier, sowie Georg Bätzing, heute Bischof in Limburg und Chef der Bischofskonferenz.
"In der Tat sind im Verlauf der Bearbeitung dieses Falles Fehler passiert, sowohl im Umgang mit Betroffenen als auch in der Handhabung der Bearbeitung", heißt es in der Erklärung. "Die damals und heute im Bistum Verantwortlichen haben dies mehrfach öffentlich eingeräumt und ausdrücklich bedauert. Die Bischöfe und die anderen an diesem Fall maßgeblich Beteiligten wollen sich ihrer Verantwortung stellen." Sie seien "dankbar", wenn sich die Aufarbeitungskommission in Trier des Falles nun annehme. Voruntersuchungen hätten den Verdacht gegen den Pfarrer erhärtet, derzeit laufe ein kirchliches Strafverfahren. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft seien laut Zeit eingestellt worden.
Bis man mehr weiß über die Geschehnisse in Trier, dürfte noch Zeit vergehen, dort hinkt die Aufarbeitung vielen anderen Bistümern hinterher. In dieser unklaren Lage verzichtet Marx also darauf, das Bundesverdienstkreuz entgegenzunehmen. Dafür gibt es Applaus, auch von den schärfsten Kritikern.
Gut finde er diesen Schritt, lässt Peter Bringmann-Henselder wissen, er gehört dem Kölner Betroffenenbeirat an. "Es zeigt, dass auch hohe Kirchenfürsten endlich mal den Blick auf die Betroffenen werfen." Er hätte sein eigenes Bundesverdienstkreuz zurückgegeben, wenn Marx die Auszeichnung auch bekommen hätte. Der Betroffenenverein Missbit aus Trier nannte den Verzicht die "einzig richtige Möglichkeit". Dies zeige, dass Marx die Kritik sehr ernst nehme.
Der Verzicht auf das Verdienstkreuz kommt an
Auch aus seinem aktuellen Bistum wird Marx gelobt, etwa von Agnes Wich, die sich bundesweit in Initiativen Betroffener engagiert und Mitglied im neu gegründeten Betroffenenbeirat in München ist. "Toll!", das sei ihr erster Gedanke gewesen. Allein, der Verzicht sei ihr etwas zu spät gekommen, erst nach den Protesten. Marx habe vermutlich erkannt, welchen Wirbel die Auszeichnung ausgelöst hätte, weil der Prozess der Aufarbeitung längst nicht abgeschlossen ist - weder in Trier noch in München. Wich formuliert eine Hoffnung, die sich auch als Kritik verstehen lässt: "Vielleicht beginnt er doch zu verstehen, was das ganze Thema Missbrauch bedeutet."
"Für die Reaktion des Kardinals habe ich allergrößten Respekt", sagt eine andere kritische Stimme aus der Münchner Diözese, der Priester Wolfgang Rothe, der sich gegen Missbrauch und für die Rechte Homosexueller in der katholischen Kirche engagiert. Ein weiterer Betroffener, der sich für Aufarbeitung in der Münchner Erzdiözese einsetzt, aber namentlich nicht genannt werden möchte, freut sich, weil der Verzicht auf die Ehrung deeskalierend in der gesamten Debatte um Aufarbeitung wirke. Er lobt Marx: "Das zeugt von einer gewissen Größe."