Süddeutsche Zeitung

Missbrauch in der katholischen Kirche:440 Seiten fehlen

Das Erzbistum Berlin legt ein Missbrauchs-Gutachten vor, benennt aber weder Täter noch Verantwortliche. Mit Opfern wurde nicht gesprochen. Die Betroffenen sind empört.

Von Matthias Drobinski, Frankfurt

Die Miene von Erzbischof Heiner Koch ist ernst, die Worte der Gutachterin und des Gutachters hart. Von "systematischer Verantwortungslosigkeit" spricht der Jura-Professor Peter-Andreas Brand. Auch im katholischen Erzbistum Berlin hätten die Verantwortlichen die Institution geschützt, statt den Opfern von sexueller Gewalt zu helfen, sagt Rechtsanwältin Sabine Wildfeuer. Die beiden stellen an diesem Freitag in Berlin ein Gutachten vor, dass das Handeln der Erzbischöfe und anderer Verantwortlicher bei Missbrauchsfällen im Erzbistum untersucht.

Die Rechtsanwaltskanzlei Redeker, Sellner, Dahs hat im Auftrag des Erzbistums alle Personalakten seit 1946 untersucht: Gab es Hinweise auf sexuelle Gewalt durch Priester und Ordensleute? Wurde ihnen nachgegangen, wurden kirchenrechtliche Voruntersuchungen und Strafverfahren eingeleitet, die Staatsanwaltschaft informiert?

61 Beschuldigte haben die Anwälte gefunden, es dürften längst nicht alle sein. 121 Betroffene haben sie identifiziert, doch schon in den Akten finden sich zahlreiche Hinweise auf zum Teil namentlich genannte Opfer. Nur 17 kirchliche Strafverfahren wurden eingeleitet, sieben endeten mit einer Strafe. Elf weltliche Prozesse gab es. Viele Fragen drängen sich auf: Wie ging der verstorbene Kardinal Joachim Meisner mit solchen Fällen um, wie Kardinal Georg Sterzinsky, wie dessen Nachfolger Rainer Maria Woelki, der heute Kardinal und Erzbischof in Köln ist?

Es heißt, die Betroffenen sollten geschützt werden

Zahlreiche Bistümer haben mittlerweile solche Berichte veröffentlicht. Mitte November hat das Bistum Aachen ein Gutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl (WSW) vorgestellt, das unter anderem dem dortigen emeritierten Bischof Heinrich Mussinghoff schwere Fehler vorwarf, was der zurückwies. Und Anfang November hat der Kölner Kardinal Woelki entschieden, ein vergleichbares Gutachten der Kanzlei WSW vorerst unter Verschluss zu halten - aus der Sicht des Erzbistums ist es inhaltlich mangelhaft und äußerungsrechtlich bedenklich. Seitdem tobt ein regelrechter Aufstand der Gläubigen im Erzbistum.

Die Kanzlei Redeker, Sellner, Dahs (RSD), die das Berliner Gutachten verantwortet, ist pikanterweise die gleiche Kanzlei, die in Köln half zu verhindern, dass das WSW-Gutachten veröffentlicht wurde. Entsprechend geht das Berliner RSD-Gutachten einen anderen Weg als WSW: Es nennt öffentlich keine Namen von Verantwortlichen.

In der veröffentlichen Version des Gutachtens klafft deshalb zwischen der Seite 43 und 483 ein 440 Seiten tiefes Informationsloch. Was dort steht, bekommt erst eine Kommission zu lesen. So sollen die Betroffenen vor Retraumatisierung geschützt und vor "voyeuristischer Darstellung". "Wenn die Gutachten-Kommission zu einem Ergebnis kommt und der Erzbischof unter Berücksichtigung dieses Ergebnisses Entscheidungen getroffen hat, werden wir diese vorstellen", verspricht Generalvikar Manfred Kollig.

So aber bleiben bei der Vorstellung des Gutachtens zunächst einmal zahlreiche offene Fragen: Was bedeutet es, wenn da steht, Kardinal Sterzinsky habe sich von Gesprächen mit Beschuldigten umfangreiche Notizen gemacht, die anderen Kardinäle jedoch nicht? Wollten die nichts Schriftliches hinterlassen? Und wieso fanden die Geständnisse, die Sterzinsky offenbar häufig aufschrieb, keinen Eingang in die Personalakte?

Es gibt Hinweise auf viele strukturelle Defizite

Auch ohne Namen lässt sich einiges über die strukturellen Defizite des Erzbistums im Umgang mit Missbrauchsfällen herauslesen. Lange habe man erst gehandelt, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ, kritisiert das Gutachten. Die Aktenführung sei schlampig gewesen. Viele der Beschuldigten seien schon im Priesterseminar negativ aufgefallen - und trotzdem geweiht worden. Das Kirchenrecht müsse dringend geändert werden, die hierarchische Struktur der Kirche behindere Aufarbeitung und Prävention.

Auf die Frage, warum man diese Erkenntnisse nicht mit konkreten Namen verbinden könne, sagt Brand: "Wir sind keine Ankläger, sondern Gutachter." Überhaupt bescheinigt das RSD-Gutachten dem Erzbistum, sehr früh von der Täter- zur Opferfürsorge übergegangen zu sein: Das Jahr 2002 sei ein "Paradigmenwechsel" gewesen, sagt Brandt, damals veröffentlichte die Bischofskonferenz erste Leitlinien zum Umgang mit Missbrauchsfällen. Acht Jahre bevor im Berliner Canisius-Kolleg der Jesuiten der große Skandal offenbar wurde, wird alles gut in Berlin? Das erstaunt. Das Aachener WSW-Gutachten belegt, dass es dort auch noch nach 2010 schwerfiel, mit Missbrauchsfällen angemessen umzugehen.

Die Betroffenen des Canisius-Kollegs jedenfalls reagieren empört: Ein Gutachten zu veröffentlichen, "ohne Verantwortliche zu identifizieren, ohne Täter zu benennen, ohne mit Opfern zu sprechen", das führe "das Bemühen um Aufklärung und Aufarbeitung ad absurdum", erklärt die Gruppe "Eckiger Tisch".

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