Missbrauch:Die Freiheit der Kinder

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Die brutale Tat des Manns mit der Wolfsmaske macht Eltern hilflos und ängstlich. So schwer es zu ertragen ist: Vor solchen Verbrechen gibt es keinen vollständigen Schutz. Kinder nicht mehr alleine nach draußen zu lassen, ist daher wenig sinnvoll.

Kommentar von Barbara Vorsamer

Dass Eltern Angst um ihre Kinder haben, ist verständlich. Ein Mann mit einer Wolfsmaske hat in München eine Elfjährige in einem Park vergewaltigt. Dass als Reaktion nun viele Eltern ihre Kinder wieder mit dem Auto zur Schule fahren, nur in der Gruppe zum Sportverein gehen lassen und sich wünschen, die Kinder blieben nachmittags im Haus, ist nachvollziehbar. Sicher ist sicher. Die Tat ist so unfassbar, so brutal, dass jeder sein Kind unbedingt davor schützen möchte. Umso schwerer ist zu ertragen, dass es vollständigen Schutz nicht geben kann.

Der Tatverdächtige ist ein einschlägig vorbestrafter Sexualstraftäter, er saß in Haft und im Maßregelvollzug. Zuletzt war er jedoch nicht mehr ununterbrochen unter Aufsicht. Vier Ärzte hatten das Gutachten zur Lockerung der Maßnahmen unterzeichnet. Vielleicht stellt sich noch heraus, dass die Gutachter grobe Fehler gemacht haben, der Fall wird geprüft. Doch es kann auch sein, dass herauskommt: Haben sie nicht, mit dieser Tat war nicht zu rechnen. Die Chance auf Resozialisierung haben im deutschen Rechtsstaat auch Menschen, die Kinder missbraucht haben. So unfassbar das für Eltern ist.

Verbrechen wie das des Wolfmaskenvergewaltigers sind der Albtraum aller Mütter und Väter. Gegen Gefühle helfen Fakten wenig. Trotzdem: Die meisten Übergriffe auf Kinder und Jugendliche finden im sogenannten Nahbereich statt, also in der Familie, im Sportverein, in der Nachbarschaft. Selbst die, die in der Statistik Fremdtäter heißen, waren für das Kind oft keine Unbekannten, sie haben bereits angebandelt im digitalen Raum, im Schwimmbad oder auf dem Spielplatz.

Wie im Fall Lügde, wo die beiden Hauptverdächtigen am Donnerstag hundertfachen Kindesmissbrauch gestanden haben. Sie mussten ihre Opfer nicht ins Gebüsch zerren. Die Kinder kamen freiwillig zu ihnen und nicht alle erzählten jemandem davon. Vielleicht, weil sie dachten, ihnen glaube niemand. Vielleicht, weil ihnen die Worte dafür fehlten. Vielleicht, weil ihnen nicht einmal bewusst war, dass ihnen Schlimmes angetan worden war.

Hier können Eltern ansetzen, um ihre Söhne und Töchter zu schützen. Sie sollten - vom Kleinkindalter an - die körperlichen Grenzen respektieren, also beispielsweise nicht kitzeln und küssen, wenn das Kind dies gerade nicht möchte. Sie können so versuchen, ihre Kinder zu selbstbewussten Menschen zu erziehen und ihnen beizubringen, dass ihr "Nein" etwas zählt. Eltern sollten ihre Kinder frühzeitig sexuell aufklären und dabei alle Körperteile, auch die Geschlechtsteile, benennen. Nur so haben die Kinder im Ernstfall das Vokabular, ihr Unbehagen auszudrücken. Vor allem aber sollten Eltern gut zuhören und hinschauen. Kinder äußern oft nicht direkt, wenn etwas nicht stimmt. Der Satz "Ich mag nicht zum Training" kann harmlos sein - oder bedeuten, dass im Sportverein schlimme Dinge passieren.

Der beste Schutz vor Missbrauch ist es, Kindern Selbstwert zu vermitteln und ihnen mit Respekt und Feingefühl zu begegnen. Wenn aber ein Mann eine Elfjährige ins Gebüsch zerrt, nützt auch das nichts. Als Eltern kann man - auch angesichts der Hilflosigkeit, die man empfindet - nur versuchen, rational zu bleiben: Solche Fälle sind extrem selten. Kinder aus Angst bei schönstem Sommerwetter nicht mehr unbeaufsichtigt nach draußen zu lassen, beschneidet ihre Freiheit im Übermaß.

© SZ vom 29.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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