Süddeutsche Zeitung

Missbrauch bei der Bundeswehr:Abseits der Hochglanz-Truppe

  • Das Verteidigungsministerium hat Übergriffe bei der Bundeswehr analysiert und Verdachtsfälle zusammengetragen.
  • In mehr als 200 Fällen ging es um "sexuelle Belästigung, Benachteiligung, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" - wobei sowohl Fälle innerhalb der Bundeswehr als auch im privaten Bereich erfasst wurden.
  • Die Meldeverfahren sollen nun gestrafft werden, außerdem soll die Ausbildung von Vorgesetzten verbessert werden.

Von Christoph Hickmann, Berlin

Ursula von der Leyen (CDU) hatte gerade ihr Amt als Verteidigungsministerin angetreten, da gab sie Anfang 2014 schon das erste ehrgeizige Ziel vor: Die Bundeswehr, verkündete sie, solle zu einem der attraktivsten Arbeitgeber der Republik werden. In der Folge wurden von wohnlicheren Stuben bis zu höheren Zulagen diverse Verbesserungen auf den Weg gebracht - und die Truppe wurde öffentlich, in Broschüren und Imagefilmen, auf Hochglanz getrimmt. "Aktiv, attraktiv, anders", mit diesem Slogan wirbt die Armee um Nachwuchs. Doch in den vergangenen Wochen hat das Bild Kratzer bekommen.

Ende Januar wurde bekannt, dass es in der Staufer-Kaserne in Pfullendorf seltsame, ins Sexuelle hineinspielende Ausbildungspraktiken, Mobbing sowie in einem weiteren Komplex Misshandlungen bei sogenannten Aufnahmeritualen gegeben hatte. In der Folge wurde ein Fall bei den Gebirgsjägern in Bad Reichenhall bekannt, wo ein Soldat offenbar sexuell belästigt und diskriminiert wurde.

Zuletzt konstatierte der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels in der Welt, die Bundeswehr habe ein "Gender-Problem". Er registriere eine zunehmende Zahl an Beschwerden "über sexuelle Belästigung und Mobbing". Daraus ergeben sich Fragen: Ist das, was in jüngster Zeit bekannt wurde, repräsentativ? Wie verbreitet sind solche Übergriffe? Wo kommen sie besonders häufig vor?

Solchen Fragen ist in den vergangenen Wochen eine Projektgruppe im Verteidigungsministerium nachgegangen. Man habe "analysiert, ob möglicherweise Hinweise für weitere mit den Ereignissen am Standort Pfullendorf vergleichbare Verstöße gegen die Grundsätze der Inneren Führung in der Bundeswehr vorliegen", heißt es in einem von Generalinspekteur Volker Wieker unterzeichneten Bericht für den Verteidigungsausschuss, welcher der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Dazu wurden alle bereits bekannten Verdachtsfälle aus den vergangenen zwei Jahren analysiert, ebenso wie Fälle, die im Ministerium bislang nicht bekannt waren, so der Bericht.

Auf die Zahl der Soldaten bezogen, habe man vergleichsweise wenige Fälle, heißt es im Ministerium

Dabei kam einiges zusammen. Nach SZ-Informationen wurden aus den Jahren 2015 bis 2017 insgesamt 7800 sogenannte "Meldepflichtige Ereignisse zur Inneren und Sozialen Lage der Bundeswehr" analysiert, wobei es sich lediglich um 3600 sogenannte Erstmeldungen handelte, also neue Fälle. Davon wiederum wurden 3100 als Meldungen mit "Relevanz Innere Führung" identifiziert - wobei die Spanne hier nach Angaben aus Ministeriumskreisen "von der eigenmächtigen Abwesenheit bis zur vollzogenen Vergewaltigung" reichte.

Hier muss man sich vor Augen halten, dass die Bundeswehr, wie es der Wehrbeauftragte gern ausdrückt, "die Dimension einer mittleren Großstadt" hat - und wegen der besonderen Anforderungen an den Beruf des Soldaten auch solche Verstöße erfasst werden, die im Privatleben begangen werden. So gab es etwa in den beiden zurückliegenden Jahren mehr als 300 Fälle des Verdachts auf "Diebstahl, Unterschlagung, Raub oder Erpressung", fast 500 Unfälle mit Personenschäden sowie mehr als 250 Fälle von "Straftaten und Ordnungswidrigkeiten nach dem Betäubungsmittelgesetz". Und in mehr als 200 Fällen ging es um "sexuelle Belästigung, Benachteiligung, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" - wobei auch hier sowohl Fälle innerhalb der Bundeswehr als auch im privaten Bereich erfasst wurden.

In gut 16 Prozent dieser Fälle ging es um den Verdacht der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung, in knapp zehn Prozent etwa um "Verbreitung pornografischer Schriften". Den mit knapp 60 Prozent bei Weitem größten Anteil machten Fälle mit dem Verdacht auf "sexuelle Belästigung und Benachteiligung" aus. Doch wie viel davon spielte sich tatsächlich in der Bundeswehr ab, also im Dienst?

Etwa ein Drittel der gesamten Fälle spielt laut Ministeriumskreisen im privaten Bereich. Und erfahrungsgemäß bestätige sich etwa ein Drittel der Verdachtsfälle nicht - womit eine zweistellige Anzahl von Fällen pro Jahr übrig bleibt. Im Ministerium wird argumentiert, dass der Anteil einschlägiger Fälle in der Bundeswehr damit unter dem Bundesdurchschnitt liege - obwohl man in der Truppe naturgemäß überdurchschnittlich viele junge Männer habe.

Wobei die Frage bleibt: Wie hoch ist die Dunkelziffer? In einer 2014 vorgestellten Studie hatte ein Viertel der befragten Soldatinnen angegeben, mindestens einmal "unerwünschte sexuell bestimmte körperliche Berührungen" erlebt zu haben. Doch Strukturen wie in Pfullendorf hat die Arbeitsgruppe im Ministerium offenbar an anderen Standorten nicht gefunden. Stattdessen wird eine wesentliche Erkenntnis in dem Bericht so zusammengefasst: "Die untersuchten Verdachtsfälle von Verstößen gegen die Innere Führung sind im Schwerpunkt Standorten der Truppe mit infanteristisch geprägten Verbänden und in Teilen Ausbildungseinrichtungen zuzuordnen."

Zu Verstößen kommt es also vor allem dort, wo eher robuste Typen gefragt sind - schließlich sind Infanteristen die zu Fuß kämpfende Truppe. Und je stärker sich eine Truppe als Elite sehe, so wie die Gebirgs- oder Fallschirmjäger, desto höher sei die Gefahr, dass sich innerhalb eines solchen Kosmos ein eigentümliches Klima entwickle, heißt es im Ministerium.

Eine weitere Erkenntnis: "Im Fokus stehen überwiegend Mannschaftssoldaten und Unteroffiziere, vorrangig im Altersband zwischen 20 und 30 Jahren", heißt es im Bericht für den Ausschuss. Das hätte man sich zwar ohnehin denken können, doch nun steht die Erkenntnis eben auf einer halbwegs sicheren Datenbasis.

Was daraus folgt? Die Meldeverfahren sollen gestrafft werden, außerdem soll die Ausbildung von Vorgesetzten verbessert werden, heißt es im Bericht. Zudem müsse "für einen respekt- und würdevollen Umgang" sensibilisiert werden. Und es wird eine neue Datenbank geben. "Sie soll helfen, rascher und leichter als bisher Trends und Fehlentwicklungen zu identifizieren."

Die Opposition fordert noch mehr: eine "ehrliche, moderne Führungskultur", wie es die Grünen-Abgeordnete Agnieszka Brugger ausdrückt. Dies sei gerade dann notwendig, "wenn man die klugen Köpfe nicht schnell wieder verlieren will". Also genau jenen Nachwuchs, auf den es Ursula von der Leyen eigentlich abgesehen hat.

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Quelle:
SZ vom 29.03.2017/mikö
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